24. April 2024. Toomaj Salehi wird zu Tode verurteilt. Der Rapper ist eine zentrale Symbolfigur im Widerstand gegen das Mullah-Regime. Umso weiter und härter schlägt diese Nachricht Wellen. Bis zu uns. In die Aula der Uni zu Köln, in der an diesem Abend vier Frauen über die aktuelle Lage in Iran berichten. In diesem Zusammenhang lerne ich Soheila kennen. Sie beeindruckt mich sehr und als ich meiner Freundin Irmi davon erzähle, ist uns beiden klar: Soheilas Geschichte muss erzählt werden.
Als wir Soheila (Afsar Sattari) in ihrem Kölner Büro treffen, ist sie 66 Jahre alt. Geboren in einer Kleinstadt im Westen von Iran. Über 50 Jahre ist es nun her, dass sie anschließend mit ihrer Familie in die Landeshauptsadt Teheran zog. Immer im Hintergrund: Die Hoffnung, den Kindern eine bessere Zukuft bieten zu können. In Teheran besuchte sie das Gymnasium und bestand anschließend mit 17 die Aufnahmeprüfung zur Universität.
Doch sollte sich ab diesem Zeitpunkt alles für sie ändern.
Ihre Familie war schon immer politisch gewesen, erzählt Soheila. Als Kind, erinnert sie sich, hätten sie eine große Bibliothek gehabt. In den Augen des Regimes – ist allein das problematisch. Ihre Eltern waren Lehrer, ihre Mutter Schulleiterin. Zu einem späteren Zeitpunkt, erzählt Soheila, habe ihre Mutter sogar eigens die erste Mädchenschule in einer Nachbarstadt eröffnet. „Role Model” nennt sie sie heute. Auch weil sie diese starke, gebildete Frau als besonders tolerant und empathisch wahrgenommen hat. Auch ihre Geschwister studierten in Teheran. Ihr acht Jahre älterer Bruder war schon längere Zeit politisch aktiv und als er daraufhin inhaftiert wurde, knüpfte Soheila bei einem Gefängnisbesuch selber Kontakte zur oppositionellen Partei.
Soheila war Teil einer linken Oppositionspartei. Diese wurde eigentlich vom Regime selbst gegründet und geführt, um Regime Kritiker*innen zu entlarven. Davon wussten die Mitglieder jedoch nichts. Und auch Soheila fiel dem zum Opfer. Sie wurde als Regime Kritikerin enttarnt und nach kurzer Zeit verhaftet- damals war sie 17. Erst nachdem sie erneut zur Organisation zurückgekehrt war, erfährt sie den wahren Grund ihrer Verhaftung und das falsche Spiel, das mit ihr gespielt wurde.
Gefängnis ist nicht gleich Gefängnis: In Deutschland bedeutet es Freiheitsentzug, aber nicht Entzug der Menschenrechte. In Iran ist das anders. 266 Hinrichtungen allein in der ersten Hälfte von 2024.
Soheila erzählt uns, wie sie körperlich und psychisch gefoltert wurde. Nicht im Detail, das wäre vermutlich nur schwer auszuhalten. Sie erzählt von „Apollo” einer Maschine mit verschiedenen Folterwerkzeugen. Und trotz allem bleibt sie standhaft.
Für Soheila war früh klar: Der Kampf für Gerechtigkeit würde sie viel kosten.
Soheila war eine von vielen die damals, in der Zwischenzeit und heute noch willkürlich verhaftet oder sogar zu Tode verurteilt wurden/werden. „Staatsfeinde”. Menschen, die friedlich demonstrieren, sich für Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzen, werden inhaftiert, zum Schweigen gebracht, aus der Welt entfernt. Politisch sein, das bedeutet in Iran noch immer die Aufgabe der eigenen Rechte. Für Soheila war früh klar: Der Kampf für Gerechtigkeit würde sie viel kosten. Bei ihrer ersten Festnahme kam Soheila bereits nach fünf Monaten wieder frei.
Ihre zweite Festnahme erfolgte knapp ein Jahr später. Zwei Jahre vor der Machtübernahme Chomeinis. Sie wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie erklärt uns, dass sie während ihrer zweiten Festnahme nicht mehr gefoltert wurde, ihre Vermutung: Die mediale Aufmerksamkeit und das Interesse der westlichen Welt waren zu groß. So wären ihre Inhaftierung, und auch die vieler weiterer, instrumentalisiert worden, um zu zeigen, „ihr habt alles falsch gehört, wir sind gut.” Um die Haftbedingungen und auch die grundsätzlichen Menschenrechte in ein besseres Licht zu rücken. Soheila erzählt uns, dass das Rote Kreuz und Journalist*innen ins Land und in die Gefängnisse gelassen wurden, um von den „guten” Bedingungen zu berichten. Während in den Hinterzimmern weiterhin gefoltert und missbraucht wurde.
Doch egal was passierte, wer sich ihr den Weg stellte: Für Soheila stand fest: „Ich habe für Gerechtigkeit gekämpft. Ich habe nicht für eine Person gekämpft oder wegen einer Person. Ich habe für Demokratie, politische Demokratie, in meinem Land gekämpft und ich bleibe dabei.”
Soheila und ihr Mann wechselten zu einer Partei mit „sauberer” (eine Partei, die nicht von dem Regime für Kritiker*innen installiert worden ist) Vergangenheit: „Volksfedajin”, nachdem die wahren Ursprünge ihrer vorherigen Partei ans Licht gekommen waren.
Da diese jedoch vom Regime verboten und verfolgt wurde, mussten sie, um in Sicherheit zu bleiben und nicht erneut verhaftet zu werden, ihre Identität, ihren Wohnort und ihre Arbeit immer wieder ändern. Das bedeutete auch, dass sie keinen Kontakt zu anderen Parteimitgliedern oder ihrer Familie haben konnten. Sie lebten im „Untergrund”. 1983 flohen sie mit ihrem ersten Kind über einen Fluss in die Sowjetunion.
In der Sowjetunion lebten sie drei Jahre und Soheila erzählt uns, dass sie dort zum ersten Mal realen Sozialismus und sein wahres Gesicht zu spüren bekamen. „Es war eine eiserne Welt, der Sozialismus, wir waren so getrennt von unseren Wurzeln und hatten keine Möglichkeit, Kontakt zu Bekannten und Familie in Iran herzustellen.” Und auch weiter einen politischen Einfluss in Iran zu haben, wurde zunehmend schwierig.
Sie mussten feststellen, dass Gerechtigkeit auch hier fehlte. Dabei war das alles gewesen, für das sie gekämpft hatten. Tief erschüttert realisierten sie, dass ihre Überzeugungen sich als etwas anderes entpuppt hatten, als sie angenommen hatten, und auch im Sozialismus Gerechtigkeit nicht an erster Stelle steht. Immer wieder die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen – das ist wohl etwas, das Soheilas Leben grundsätzlich prägte, vielleicht sogar prägen musste. Dabei blieb doch immer der Kern bestehen: Der Kampf für Gerechtigkeit.
„Ich habe für Gerechtigkeit gekämpft. Ich habe nicht für eine Person gekämpft oder wegen einer Person. Ich habe für Demokratie, politische Demokratie, in meinem Land gekämpft und ich bleibe dabei.”
Nach circa drei Jahren entschieden sie sich für eine weitere Flucht in den Westen, nicht nur um dem Sozialismus der Sowjetunion zu entfliehen, sondern auch, weil sich die Strategien ihrer Partei zunehmend veränderten: Dahin das Regime zu unterstützen, da sie ein Potential des Wandels in ihm sahen. Das, erklärt uns Soheila, wollten sie und ihr Mann nicht mehr unterstützen. Auch wenn sie dann als Verräter*innnen gelten würden.
In Deutschland konnte sich Soheila endlich ihren Wunsch erfüllen, eine technische Ausbildung zu erlangen. 1997 wird sie Diplom Ingenieurin an der TH in Köln, 2007 beendet sie ihr Masterstudium in „Information Engineering”. 2017 erlangt sie mit 59 Jahren ihren Doktor (Dr. Phil.), an der Uni Wien, im Bereich „technische Kommunikation”. Ihr Forschungsschwerpukt war „Genderaspekt im technischen Dokumentationsbereich”.
2002 gründete sie ihre eigene Firma: Goal Electronic Print Media. Sie ist also selbstständig und gleichzeitig Teil der Geschäftsführung von zwei mittelständischen Unternehmen mit dem Schwerpunkt Transport. Außerdem ist Soheila in 37 Organisationen tätig, wobei sie bei 14 ein aktives Amt bekleidet. Ihre Worte dazu: „Hält lebendig, hält das Leben abwechslungsreich.“ Sie sei einfach schon immer der Arbeitstyp gewesen.
Soheila engagiert sich insbesondere für die Belange weiblicher Geflüchteter, beispielweise um deren Integration in den Arbeitsmarkt. Dabei verknüpft sie ihr technisch-naturwissenschaftliches Interesse mit Gerechtigkeit.
„[Es geht darum] Mädchen und Frauen an Technik heranzutragen[…], weil die Existenzsicherung von Frauen [dadurch] sichergestellt wird. […] Deswegen wollen wir, dass die Frauen also Selbstbewusstsein haben und eine eigene Rolle […] in der Gesellschaft haben. Das ist eine technische Sache, aber auch [eine] soziale Sache.“
Mit der Fluchtwelle 2015 kommt sie auf die Idee, eigene Erfahrungen an Migrantinnen weiterzutragen. So entwickelte sie mit ihrem Team von „AKAD FMFM” eine multimediale Go Digital-Datenbank mit 8 Sprachen, in der Wörter einer Fachsprache in 14 Berufsfeldern erklärt werden.
„AKAD FM-FM“, ist ein Zusammenschluss von Frauen mit Flucht-, und Migrationshintergrund.
Sie setzen sich für bessere Chancen von immigrierten und geflüchteten Akademikerinnen im Allgemeinen und insbesondere in Bezug auf ihre Bildung, Ausbildung und berufliche Integration ein.
Das Team ist transkulturell, weshalb Beratungen in 15 verschiedenen Sprachen angeboten werden können.
Wenn du auch gerne einen Teil zur Integration von Frauen beitragen willst, dann scanne gerne den QR-Code!
Was sie immer wieder betont ist, dass Migrantinnen den Ländern, in die sie immigrieren, sehr viel zu bieten haben: „Ein guter Faktor, der mitgebracht wird, ist Resilienz, was einer Gesellschaft sehr zugutekommt. Denen muss man einfach die Möglichkeit geben, eine gesellschaftliche Teilhabe zu haben.“
Natürlich interessiert sie sich als ehemalige Oppositionelle immer noch sehr für die Situation in Iran. Sie hat mehrere Texte dazu veröffentlicht, engagiert sich bei „Frau, Leben, Freiheit”, weil sie eben weiß, wie es ist in einem Land zu leben, in dem Menschenrechte missachtet werden. So forderte sie unteranderem bei einem Gespräch mit einer Lanndtagsabgeordneten, die iranischen Revolutionsgarden auf die Terrorist*innenliste zu setzen. Soheila wünscht sich, dass die Öffentlichkeit weiterhin die Belange der Menschen in Iran verfolgt und wahrnimmt. Dass die Forderungen der Proteste progressive Aufforderungen sind und von progressiven Menschen kommen. Es gibt eine progressive Alternative in Iran, die sich an die Menschenrechtscharta hält. Warum werden diese Alternativen von westlichen Regierungen nicht mehr unterstützt? Das verstehe sie nicht.
Nicht nur waren wir unfassbar beeindruckt und inspiriert von Soheilas persönlicher, beeindruckender Geschichte. Wir haben auch erneut festgestellt, dass unsere Sicht auf Geschichte und politisches Geschehen stark eurozentrisch geprägt ist. Mit der Geschichte des Iran kannten wir uns vor dem Interview mit Soheila überhaupt nicht aus und selbst jetzt, sind es nur Bruchstücke, die sich ein wenig gefügt haben.
Es ist wichtig, informiert zu sein. Auch über Dinge, die fernab der eigenen Realität und Geschichte passieren. Nicht nur um mehr Engagement zu zeigen, sondern allein um dankbarer für die rechtliche Lage in Deutschland zu sein und sich bewusst zu machen, dass die meisten Menschen weit weg von einem funktionierenden Rechtsstaat leben. Oder gar von „basic human rights”.
Wir sollten Menschen, die hierher flüchten, nicht alleine lassen. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft und als privilegierte Menschen, dort Hilfe zu leisten, wo sie benötigt wird. Ihre Geschichten zu hören und aus ihnen zu lernen.
Es braucht mehr Repräsentation und Vorbilder von starken Frauen, auch in MINT-Berufen. Und genau so ein Vorbild ist Soheila. Sie hat sich durchgekämpft, nicht aufgegeben. Davon können wir uns alle eine Scheibe abschneiden!
Von Irmi Schraud und Lilli Raiser
Beitrag erstellt am: 08.01.2025 um 19:29 Uhr
Letzte Änderung am: 08.01.2025 um 19:29 Uhr