Housing First – eine Lösung für alle?

Verzweifelte Person im Vordergrund vor einer Häuserreihe
Die Krise auf dem Wohnungsmarkt macht vielen zu schaffen. Foto: Pixabay, Linh Chi Bui.

Wie mit einer einfachen Idee Wohnungslosigkeit bekämpft werden soll.

Chronische Wohnungslosigkeit ist ein allgegenwärtiges Problem. Insbesondere Köln ist davon als viertgrößte deutsche Großstadt betroffen. Auf den Straßen sehen wir immer wieder dieselben Menschen, die um Geld bitten, und manche von uns fragen sich dabei, ob man nicht mehr für sie tun kann, als nur ein wenig Kleingeld zu erübrigen. Was kann auf politischer Ebene gemacht werden, um diesen Menschen langfristig zu helfen? Wie können sie am besten unterstützt werden, damit sie sich nachhaltig in die Gesellschaft reintegrieren?

Eine klare Antwort auf diese Fragen gibt der amerikanische Psychologe Sam Tsemberis mit dem Konzept Housing First. Er entwickelte das Konzept in den 1990er Jahren, als er in New York mit psychisch kranken Wohnungslosen arbeitete. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass er immer wieder dieselben Menschen behandelte. Seine Hilfe schien keinen dauerhaften Ausweg aus ihrer Problemlage zu ebnen. Der Lösungsvorschlag von ihm und seinem Team: Nachhaltige Hilfe ist nur möglich, wenn man den Menschen eine Wohnung gibt und ihnen damit von Anfang an ihre Selbstbestimmung ermöglicht.

Die Wege aus der Wohnungslosigkeit

Bevor wir das Konzept von Housing First verstehen können, müssen wir ein paar Schritte zurückgehen. Der Weg aus der Wohnungslosigkeit ist nicht so einfach, wie es auf dem ersten Blick scheint. Es existieren viele Vorwürfe gegenüber Wohnungslosen, die sich hartnäckig halten. Ein häufiges Beispiel ist: Sie sollen doch einfach arbeiten gehen, anstatt auf der Straße um Geld zu bitten. Erstens verallgemeinert dieser Gedanke die vielfältigen Lagen innerhalb der Gruppe an Menschen, die unter die Kategorie „wohnungslos“ fallen. Nicht alle sind arbeitslos – von denen, die es sind, sind nicht alle arbeitsfähig – und nicht alle halten sich sichtbar auf der Straße auf. Zweitens steckt hinter dem Vorwurf die Erwartung, dass Wohnungslose ihre persönlichen Krisen aufarbeiten können, auch wenn sie kein stabiles Umfeld und keinen Rückzugsort besitzen. Damit eine wohnungslose Person wieder sichere Zukunftsperspektiven sieht, muss sich in ihrem Leben eine gewisse Grundsicherheit einstellen. Auch längerfristige Wohnheime können diese Grundsicherheit nur bedingt garantieren, denn sie sind nur übergangsweise als Unterkunft vorgesehen. Somit besteht die Sorge und Verunsicherung um die eigenen Zukunftsperspektiven oft weiter. Menschen ohne festen Wohnsitz, die vorübergehend bei Freund*innen, Familie oder Einrichtungen unterkommen, gelten zwar nicht mehr als obdachlos, sind aber faktisch weiterhin wohnungslos.

Nun angenommen, jemand hat Glück und kann aus dem Wohnheim ausziehen, weil er oder sie eine eigene Wohnung gefunden hat. Ist damit das Ziel erreicht?  Der Bedarf nach Hilfe besteht nach dem Erhalt der eigenen Wohnung fort, denn es besteht vor allem in der Umgewöhnungsphase ein großes Risiko, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen und erneut die Wohnung zu verlieren. Der deutsche Soziologe Volker Busch-Geertsema bezeichnet diese Rückfälligkeit als „Drehtüreffekt“. Präventive Hilfe kann in dieser Phase daher essenziell sein, damit der bisherige Fortschritt erhalten bleibt. Allerdings ist die Bereitstellung dieser Hilfe nicht selbstverständlich, denn die Verantwortung der bisherigen Sozialarbeiter*innen endet mit dem Auszug aus dem Wohnheim. Es entsteht während des Übergangs in die eigene Wohnung also eine Lücke im Hilfesystem, die den „Drehtüreffekt“ begünstigt.

Die Bedeutung von bedingungslosem Wohnraum

Housing First sieht sich als Gegenvorschlag zum aktuellen System: Wohnungssuchende sollen nicht in Übergangsunterkünften oder Wohnheimen untergebracht werden, wo sie teilweise jahrelang mit unklaren Zukunftsaussichten verweilen. Stattdessen erhalten sie ihr „Housing first“, also ihre Wohnung zuerst. Der Mietvertrag wird selbst unterschrieben. Darüber hinaus haben die Teilnehmer*innen feste Ansprechpartner*innen, die bei Bedarf unterstützen und damit einen erneuten Verlust der Wohnung vorbeugen.

Wohnungslose sollen also nicht anders behandelt werden als „normale“ Bürger*innen. Konkret bedeutet das: Ihr Wohnraum wird nicht an Bedingungen geknüpft, und sie haben von Anfang an dieselben Rechte und Pflichten wie jede*r eigenständige Mieter*in auch. Diese radikale Gleichberechtigung unterscheidet Housing First fundamental von allen bisherigen Ansätzen in der Wohnungslosenhilfe.

Mittlerweile gibt es Housing First Projekte nicht nur in Amerika, sondern auch in europäischen Großstädten wie Wien, Rom, Madrid, London, Amsterdam und Helsinki. Insbesondere in Helsinki ist das Konzept bei vielen Bürger*innen bekannt, da Housing First in Finnland als Hauptstrategie im Kampf gegen Wohnungslosigkeit implementiert wurde. Gemeinnützige Stiftungen kaufen seit mehr als 15 Jahren hier Wohnungen, die sie dann an Wohnungslose weitervermieten. Die Entwicklungen vor Ort zeugen vom Erfolg: Zwischen 2008 und 2022 hat sich die Zahl der Wohnungslosen dort mehr als halbiert.

Plakat mit der Aufschrift "Obdachlose zahlen pünktlich Miete"
Ein Plakat der Kampagne „Home Street Home“ in Köln-Deutz, aufgenommen am Anfang des Jahres. Foto: Linh Chi Bui.

Housing First in Köln

Auch nach Köln hat Housing First seinen Weg gefunden. Das Pilotprojekt des Vringstreff e. V. besteht seit 2019 und wird unter anderem von der Stadt und durch den Verkauf von Kunst finanziert. Die Anzahl der Teilnehmer*innen zeigt jedoch, dass es bis zu einer breit angelegten Umsetzung noch dauern wird. Anfang 2024 umfasste das Projekt 23 Personen, mit dem Jahresziel, 13 weitere unterzubringen – doch im Oktober waren nur zwei weitere dazugekommen. Leider konnte der Vringstreff e. V. auf Anfrage keine näheren Fragen beantworten. Auf der Website wird jedoch verlautet, dass derzeit keine Kapazitäten frei seien, um weitere Menschen in das Programm aufzunehmen.

Doch könnte sich das ändern? Seit kurzem hängen in Köln Plakate einer neuen Initiative: „Home Street Home“ nennen sie sich, eine Zusammenarbeit der Wohnungsplattform „ImmoScout24“ und der Stiftung „DOJO Cares“. Sie möchten in ganz Deutschland und Österreich Aufmerksamkeit für Housing First erreichen und rufen Vermieter*innen dazu auf, ihre Inserate für Housing-First-Organisationen bereitzustellen. Mit Slogans wie „Obdachlose zahlen pünktlich Miete“ machen sie auf sich aufmerksam, unterstützt wird die Kampagne von prominenten Persönlichkeiten wie Lena Mayer-Landruth, Joko Winterscheidt und Bausa. Auf ihrer Website bieten sie Infomaterial zum genauen Ablauf an, auf der Homepage von Immoscout24 selbst findet sich aber kein Verweis auf die Kampagne. Für eine Auswertung darüber, ob die Initiative Vermieter*innen in Köln erreicht hat, ist es aktuell noch zu früh. Es bleibt also abzuwarten. 

„Housing First ist keine allumfassende Lösung“

Das Konzept von Housing First basiert zwar auf einer simplen Grundidee, doch in der Umsetzung trifft es auf eine komplexe Realität. In der Praxis hängt die konkrete Umsetzung von verschiedensten Faktoren ab, wie beispielsweise dem verfügbaren Wohnraum, den verfügbaren Fachkräften, dem Engagement der Mitmenschen und dem politischen Willen. Und ohnehin ist Housing First keine allumfassende Lösung, da beispielsweise EU-Bürger*innen und Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus an den rechtlichen Hürden scheitern. Doch trotz Schwächen in der Umsetzung von Housing First geben erfolgreiche Vorzeigemodelle, wie in Finnland, Anlass zu vorsichtigem Optimismus.

In jedem Fall hat Sam Tsemberis mit Housing First einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Eine eigene Wohnung sollte keine Belohnung sein, sondern ein Grundrecht. Wohnungslosigkeit ist nur ein Symptom, eine Eskalation aller persönlichen Belastungen, die mit strukturellen Benachteiligungen gepaart sind. Um Wohnungslosigkeit nachhaltig aufzuarbeiten, muss den Betroffenen die Sicherheit ermöglicht werden, um die Ursachen zu bekämpfen – nicht nur die Symptome.  

Nützliche weiterführende Infos finden sich unter anderem auf der Website des BAGW e. V (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.): https://www.bagw.de/de/themen/housing-first

Von Linh Chi Bui

Beitrag erstellt am: 29.05.2025 um 21:16 Uhr
Letzte Änderung am: 29.05.2025 um 21:16 Uhr

... studiert Sozialwissenschaften an der Uni zu Köln, findet aber auch psychologische und kulturelle Themen super spannend. In ihrer Freizeit begeistert sie sich für gute Musik, Fotografie, ausgedehnte Spaziergänge und Schokorosinen. Sie ist zudem ein starker Verfechter dafür, dass "halten" und "heben" synonym verwendet werden können.