„Nur das Reisen ist Leben, wie umgekehrt Leben Reisen ist“, so formuliert es der deutsche Schriftsteller Jean Paul, der den hohen Stellenwert des Erkundens verstand. Das Reisebedürfnis der Menschen sei sogar krisenfest, meint die ADAC-Tourismusstudie von 2023. Rüdiger Heimlich ist Journalist und arbeitet als Autor für Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen. Für Print-Reportagen und TV-Dokumentationen sucht er nach spannenden Orten und interessanten Menschen. An der Philosophische Fakultät gibt er in der Kursreihe „SchreibArt“ jedes Wintersemester das Seminar „Reisereportage“. Hier erfahren Studierende, worauf es beim Schreiben einer Reportage ankommt. Dabei wird schnell klar, dass es um mehr geht als ein journalistisches Format – es geht um eine Lebensweise. Melvin Schwertel fragt den promovierten Literaturwissenschaftler nach seinen Erfahrungen mit der Fremde.
Heimlich: Nun, Reisen heißt, wenn man vom Englischen herkommt: To rise, aufstehen, einen Schritt vor den anderen tun und das Vertraute, das Eigene verlassen, um ins Neue aufzubrechen. Das bedeutet Reisen.
Heimlich: Wenn wir das Selbstverständliche verlassen, dann stellen wir das, was uns selbstverständlich ist, durch das Reisen immer auch in Frage. Wir erleben uns hoffentlich anders, wenn wir unsere eigene Blase verlassen, wenn wir unsere Routinen vielleicht auch aufgeben können. Denn das bedeutet auch, Urlaub zu nehmen, sich von sich selbst und seinem gewohnten Leben zu verabschieden. Und dabei beginnt immer auch ein Denkprozess über das, was wir uns über Jahr und Tag als das Selbstverständliche angewöhnt haben […]. Und insofern besprechen wir in unserem Seminar Reisen in einem anderen Sinn als Urlaubsreisen, wo wir uns eigentlich nur in eine andere Komfortzone begeben […]. Ich denke, Reisen beginnt genau dort, wo das aufhört. Wo diese Seifenblase endet, wo wir die‐ sen Horizont durchbrechen, um wirklich neue Dinge, Unbekanntes in der Welt zu entdecken, aber vielleicht auch in uns.
Heimlich: Glück muss nicht etwas mit der Ferne zu tun haben. Die einen brechen auf, um in der Ferne ihr Glück zu suchen. Die wenigsten haben das freiwillig getan. Die meisten mussten aufbrechen, um in der Ferne Freiheit und Glück zu suchen. Andere hatten das Glück schon zu Hause gefunden, in der Ehe, in ihrem Unternehmen, in der Art und Weise, wie sie gelebt haben. Manchen wurde es in die Wiege gelegt, andere mussten aufbrechen […]. Aber diese Suche nach dem Glück hat natürlich auch immer etwas damit zu tun, wie die Menschen leben […]. Glück hat immer etwas damit zu tun, ob man mit sich selbst identisch ist, ob man mit sich selbst auch glücklich lebt. Das muss nicht unbedingt mit einer Orts-Veränderung zu tun haben, aber es kann mit Erfahrungen zu tun haben, die wir erst machen, wenn wir reisen und aufbrechen.
Heimlich: Also es gibt natürlich Reisen und Momente beim Reisen, die uns auf die Probe stellen, die unsere Geduld auf die Probe stellen, die unsere Intelligenz auf die Probe stellen […]. Auf die Probe stellen heißt, wo wir an die Grenzen dessen kommen, was wir bisher zu managen in der Lage waren. Und da kann man natürlich auch eine Selbsterfahrung machen […]. Früher war Reisen vor allen Dingen mit Strapazen verbunden, und es gibt heute eine moderne Variante des Reisens, die verspricht Strapazen als Glücksmoment. Das sind Herausforderungen, die heute eher sportlicher Natur sind. Ob das Reisen mit dem Fahrrad sind, die durch Gebirge führen, wo jeder Radreisende sagen würde: „Na, dann fahr du da mal alleine hoch. Ich kenne da eine Strecke, die ist sehr viel angenehmer“ […]. Und der Erfolg oder das Glücksmoment der Reise liegt dann darin, dass man es sich bewiesen hat, dass man diese Herausforderung gemeistert hat, so wie man bestimmte Hindernisse meistern muss im Leben […]. Und die einen suchen die im Sportlichen, andere suchen sie vielleicht eher im Philosophischen, in kulturellen Erfahrungen. Andere suchen sie in den Grenzen der eigenen Sprache, indem sie andere Sprachen lernen und erfahren.
Heimlich: Die Sprachfähigkeit des Menschen ist schon eine nicht unbedingt einmalige, aber in ihrer Differenziertheit sicher einzigartige Angelegenheit […]. Natürlich teilen wir uns über unsere Welt mit und über die Erfahrun-gen, die wir machen. Wir geben sie weiter an unsere Kinder, an Freunde. Und wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. In früheren Zeiten waren Reisen so horizonterweiternd und haben so viel Neues vermittelt […]. So viele neue Kontakte, neue Kulturen eröffnet, dass man die Herzen so voll hatte, dass man es einfach erzählen musste […]. Und insofern ist das Erzählen darüber, das zur Sprache zu bringen, daraus eine gute Geschichte zu machen, das war immer nicht nur erkenntnisfördernd, sondern es war auch großartige Unterhaltung […].
Heimlich: Als schreibender Journalist bin ich natürlich auf ganz andere Art und Weise gefordert, [-] die Umwelt als das, was ich sehe, ins Bild zu bringen. Und das hat dann auch etwas mit Sprache zu tun. Das ist das, was mich immer gereizt hat. Dinge, die ich sehe. Dinge, die ich erfahre. Menschen, mit denen ich spreche, zur Sprache zu bringen, weil mit der Sprache reflektiert man. Erst, wenn man nach dem richtigen Wort sucht, wenn man sagt: Jawohl, das trifft es, das habe ich gesehen“. Das fand ich immer spannend.
Heimlich: Mir hat sich ein ganz kurioser Augenblick eingeprägt. Das war, als ich 25 war und ein Stipendium für ein Studium in Kanada bekommen hatte. Bis dahin hat sich mein Leben in einer relativ kleinen Welt abgespielt, in Süddeutschland […]. Und ich war dann mit 25 das erste Mal wirklich nicht nur auf einem anderen Kontinent, sondern auch auf einer anderen Sprache unterwegs und lernte auch Menschen eines anderen Kulturkreises kennen. Ich habe dort Freunde gefunden und ich erinnere mich an einen Moment, wo mich einer meiner neuen Freunde am Flughafen in Toronto abgeholt hat. Ich war zu Hause gewesen für zwei Wochen, die Eltern besuchen und wir haben seinen Truck bestiegen und fuhren auf einem dieser großen Highways […]. Er wohnte in der Nähe von den Niagara Falls und wir fuhren in den Sonnenuntergang hinein. Und vielleicht war es eben auch diese Fahrt in diesem hohen Auto, mit diesem Blick über die Autobahn in einen weiten Horizont in Kanada […] und das ist etwas, was man nicht bestellen kann und provozieren kann. Aber ich hatte in dem Augenblick ein unglaubliches Glücksgefühl. Zum ersten Mal begriff ich, dass da vor mir die ganze Welt offen lag.
Heimlich: Wenn man es ganz grob sortieren wollte, gibt es zwei Typen von Reisenden. Die einen bereiten sich auf ihre Reise akribisch vor, weil sie wissen wollen, was sie sehen müssen. Sie haben eine genaue Vorstellung von dem, was sie sehen möchten. Und haken dann mehr oder weniger auch diese Dinge ab auf ihren Reisen. Es gibt andere, die sagen: „Ich möchte gar nicht so viel lesen, ich möchte wirklich aus dem Zug steigen oder aus dem Flugzeug steigen und die Dinge auf mich zukommen lassen und das ent-decken, was sich ergibt, auch das Zufällige […]“.
Mein Tipp ist, dass sich jeder, der zu einer Reise aufbricht, Gedanken darüber macht, wie viel Gepäck im Sinne von Vorbereitung er mitnehmen will, wie viel er braucht oder ob er tatsächlich eher der Typ ist, der sagt: „Ich möchte mich durch gar nichts vorher beeindrucken, besetzen, bereden, belehren lassen, sondern ich möchte das selber sehen und das selber entdecken.“ Weder gegen das eine noch das andere ist irgendetwas zu sagen. Hauptsache, man findet die Art und Weise, wie man reisen möchte, um dieses Glücksmoment auch tatsächlich zu haben.
Von Melvin Schwertel
Beitrag erstellt am: 30.04.2025 um 19:46 Uhr
Letzte Änderung am: 30.04.2025 um 19:46 Uhr