Für viele Deutsche war wahrscheinlich die Fußball-EM das Event des Jahres. Denn eine große Sportveranstaltung im eigenen Land ist aufregend, und die deutsche Fußball-Mannschaft hat sich auch überraschend gut geschlagen. Für mich gibt es allerdings jedes Jahr eine andere Großveranstaltung, die eigentlich immer zum Highlight wird: den Eurovision Song Contest (ESC) im Mai. Seit 15 Jahren begeistert mich der Musikwettbewerb, von dem auch meine Mutter schon seit Dekaden ein großer Fan ist. Jedes Jahr feiern wir gemeinsam die Musik-Show. Doch wenn ich mich anderen Menschen gegenüber als ESC-Fan offenbare, muss ich damit rechnen, dass mein Gegenüber entweder gar nicht weiß, was der ESC ist, oder dass ich – noch schlimmer – Antworten zu hören kriege, wie: „Ach, da wird Deutschland doch sowieso nur Letzter!“ und „Das ist ja alles derselbe Pop!“. Zwei Argumente, auf die ich im Folgenden genauer eingehen und die ich widerlegen werde. Mein Ziel: Mit meinem leidenschaftlichen Plädoyer noch mehr Menschen vom ESC, seinem Konzept und seiner Musik zu begeistern.
Wenn ihr zu denjenigen gehört, die noch nie etwas vom ESC gehört haben (was für mich zwar ein großes Rätsel ist, aber an sich keine Schande), lasst ihn mich kurz erklären: Der Eurovision Song Contest ist ein Liederwettbewerb. Er fand 1956 zum ersten Mal und seitdem jedes Jahr statt. Lediglich 2020 musste er wegen der Corona-Pandemie in seiner ursprünglichen Form abgesagt werden. Dass der ESC seit bald 70 Jahren derart regelmäßig stattfindet, ist sehr bemerkenswert. Er entstand in einer Zeit, in der sich Europa noch vom Weltkrieg erholte, er „überlebte“ den Kalten Krieg und anschließend den Zerfall der Sowjetunion 1991, wodurch auch die „neuen“ osteuropäische Länder beim ESC mitmachen konnten. Der ESC wuchs kontinuierlich – sowohl in der Anzahl der teilnehmenden Länder als auch bei der Zuschauermenge und den Ausmaßen des Events an sich.
Das Konzept des ESC ist einfach zu verstehen (auch wenn es fast jährlich kleine Änderungen an den Regeln gibt): Jedes Land, das zur European Broadcasting Union (EBU) gehört (einem großen Zusammenschluss europäischer Rundfunkanstalten), darf theoretisch am ESC teilnehmen und einen Song beziehungsweise Act zum jährlichen Wettbewerb schicken. Zuschauer*innen und Jurys aller Länder vergeben dann für ihre Lieblingslieder Punkte (nicht aber fürs eigene Land), und der Song mit den meisten Punkten gewinnt. Das alles wird weltweit im TV ausgestrahlt und gefeiert. Es gibt noch deutlich mehr Regeln, aber das ist das Wichtigste, um den Spaß am ESC verstehen zu können.
Der ESC ist das größte Live-Music-Event der Welt – in diesem Jahr verfolgten weltweit rund 160 Millionen Menschen das Finale am Fernseher. Und die Show ist eine der großen Konstanten in Europa, was bei so vielen Nationen, Kulturen und Sprachen gar nicht so einfach ist. Die EBU versucht unpolitisch und neutral zu sein. Wie sich aber zum Beispiel 2022 zeigte – als Russland wegen des Überfalls auf die Ukraine vom Wettbewerb ausgeschlossen wurde –, ist der ESC durchaus politisch. Auch dieses Jahr wurde der ESC wegen Israel politisiert. Ein paar teilnehmende Länder forderten den Ausschluss Israels, und der Sängerin Eden Golan wurde massiv gedroht. Dass die Musik wegen politischer Themen in den Hintergrund rückt, macht mich als ESC-Fan sehr traurig, doch meistens gibt mir der Wettbewerb ein positives Gefühl. Der ESC steht symbolisch für die europäische Gemeinschaft. Und er zeigt, dass Kunst, Kultur und vor allem Musik die Kraft haben, Staaten und Menschen trotz ihrer Unterschiede zusammenzubringen, um die europäische Vielfalt zu zelebrieren.
Jetzt wisst ihr also, was der ESC ist. Aber was hat es mit dem Einwand auf sich, dass Deutschland immer Letzter wird? Tja, Deutschland war in den letzten Jahren tatsächlich ziemlich schlecht platziert. Seit dem Sieg von Lena Meyer-Landrut 2010 waren wir im Finale viermal auf dem letzten und dreimal auf dem vorletzten Platz. Dies könnte daran liegen, dass Deutschland häufig eher eintönigere Lieder schickt, die lediglich im deutschen Radio erfolgreich sind, aber kein internationales Publikum ansprechen. Viel wahrscheinlicher liegt es aber wohl an der „Big Five“-Regel: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien müssen sich nicht wie alle anderen Länder im Halbfinale qualifizieren, sondern sind automatisch in der Endrunde dabei. Die Regel ist umstritten, sorgt aber dafür, dass Deutschland jedes Jahr im Finale steht. Gleichzeitig werden damit unsere eher unbeliebten Beiträge nicht schon im Halbfinale „aussortiert“, sondern landen erst im Finale ganz hinten, wo es mehr auffällt und für Frustration sorgt.
Das betrifft jedoch auch andere „Big Five“-Länder wie Großbritannien (seit 2009 dreimal letzter und zweimal vorletzter Platz) und Spanien (seit 2009 neunmal auf den hintersten fünf Plätzen). Dieser kurze Vergleich zeigt bereits, dass nicht nur Deutschland des Öfteren auf den hinteren Plätzen landet. Das sollte uns beruhigen – Europa „hasst“ uns nicht. Und dieses Jahr passierte außerdem das Unverhoffte: Wir kamen mit Sänger Isaak auf den zwölften Platz bei 25 Ländern! Zwar vor allem wegen der Jury-Punkte und dank „Big Five“-Vorteil – aber trotzdem motiviert das fürs nächste Jahr. Außerdem geht es beim ESC gar nicht ums Gewinnen. Das ist bei rund 40 Ländern sowieso schwer, und ein Sieg lässt sich wegen unvorhersehbarer Trends, gesellschaftlicher Diskurse und wegen der sehr eigenen ESC-Dynamik auch kaum bewusst herbeiführen.
Nun will ich mich dem Argument widmen, dass beim ESC immer nur dieselbe Art von Musik gespielt und vor allem Mainstream-Pop mit viel Glitzer und wenig Innovation auf die Bühne gebracht würde. Vorab: Der ESC wurde als „Schlager-Wettbewerb“ ins Leben gerufen. Es ging und geht um populäre Musik, die unterhalten und eingängig sein soll. Dennoch sind jedes Jahr viele verschiedene Musikstile vertreten, die sogar gewinnen können – siehe Lordi 2006 und Måneskin 2021 mit Rock-Songs. „Quatschbeiträge“ wie „Give That Wolf a Banana“ (Norwegen 2022) und „Mama ŠČ!“ (Kroatien 2023) haben zuletzt für viel Aufmerksamkeit auch außerhalb des ESC-Kosmos gesorgt. Doch selbst wenn die Show albern ist, kann das Lied gleichzeitig ins Ohr gehen und gefallen. Ich persönlich bin oft beeindruckt von den Auftritten. Nicht zu vergessen: Der Hauptgesang ist live. Und die verschiedensten Gesangsstile sind vertreten – genauso wie Sprachen, in denen gesungen wird. Von wegen alles ist nur Englisch! Dieses Jahr wurde in über der Hälfte der Final-Songs eine andere Sprache gesungen. Und gerade diese kulturelle Vielfalt zeichnet den ESC aus.
Natürlich gibt es einen gewissen und typischen „ESC-Pop-Sound“ mit einer einprägsamen Hookline. So erinnern sich die Zuschauer*innen eben an ihre Favoriten. Aber es gibt auch zahlreiche Songs, die innovativ und ziemlich untypisch sind, zum Beispiel der Gewinnersong dieses Jahres: „The Code“ von Nemo aus der Schweiz. Nemo war übrigens die erste nicht-binäre Person, die den ESC gewann und damit auch das Thema Nicht-Binarität medial präsenter machte. Dies ist eines von vielen Beispielen, das zeigt, welche Strahlkraft der ESC hat. Der queere Aspekt des ESC ist generell äußerst wichtig, denn der Wettbewerb bietet der LGBTQIA+-Community schon seit langer Zeit eine große Bühne. Damit trägt der ESC zur Normalisierung von queeren Identitäten bei.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der ESC bringt viele Nationen und Kulturen zusammen. Musik und Diversität werden gefeiert. Mich begleitet der ESC schon seit vielen Jahren: Es begann 2008 mit dem Auftritt der No Angles, 2010 folgte der deutsche Sieg und 2011 sorgte Eric Saade für meinen ersten ESC-Lieblingssong. Jedes Jahr sind unglaublich viele Musikstile vertreten, sodass ich immer mindestens ein neues Lieblingslied für mich entdecke. Und wenn selbst ich als Rock-Fan den ESC „ertrage“, wenn sogar mir Popmusik Spaß machen kann – dann euch sicherlich auch. Und denkt für den ESC 2025 dran: Gewinnen ist nicht alles. Es geht um die Musik und um unsere europäische Gemeinschaft. Hört mal rein!
Svenjas Top Ten ESC-Songs
„We Could Be The Same” – maNga (Türkei 2010)
„Take Me As I Am” – Tornike Kipiani (Georgien 2020)
„Time“ – O.Torwald (Ukraine 2017)
„Pedestal“ – Aiko (Tschechien 2024)
„One More Day“ – Eldrine (Georgien 2011)
„Samo Mi Se Spava“ – Luke Black (Serbien 2023)
„Love Kills“ – Roberto Bellarosa (Belgien 2013)
„Stones“ – Zibbz (Schweiz 2018)
„That’s Rich“ – Brooke (Irland 2022)
„Popular“ – Eric Saade (Schweden 2011)
Hier kommt ihr direkt zur Playlist auf Spotify: Svenjas Top ESC-Songs
Von Svenja Dudek
Beitrag erstellt am: 15.11.2024 um 14:32 Uhr
Letzte Änderung am: 15.11.2024 um 14:32 Uhr