Vom Sofa aus zu den Sternen

Mehrere Science Fiction Romane liegen übereinander auf einem Tisch.
Auch mit Hörbüchern oder Fernsehserien kann auf fremde Planeten geflüchtet werden. Foto: Friederike Butzheinen.

Unsere zehn SciFi-Empfehlungen.

Ich sehe aus dem Fenster: Heute ist echt ein verdammt grauer Tag. Alles, was ich will, ist mich in eine Decke einzuwickeln und den ganzen Tag auf dem Sofa zu verbringen. Und: Warum auch nicht. Denn neben der Lehne biegt sich der Bücherstapel, den ich euphemistisch als „Regal“ bezeichne. Die perfekte Gelegenheit, dem Druckwerk etwas Erleichterung zu verschaffen – und Schwerkraft gegen Schwerelosigkeit einzutauschen. Doch Science-Fiction ist mehr als nur bloße Gegenwartsflucht: Sie kann eine intellektuelle Herausforderung sein, weil sie uns die Gelegenheit gibt, über unseren Horizont hinaus zu gehen. Sie lässt uns Ideen erproben und gesellschaftliche Probleme verhandeln – bequem vom Sofa aus. Also warum lehnen wir uns nicht zurück, greifen uns ein paar Schwarten – und vollführen einen Gedankensprung. Durch Zeit. Und durch Raum.

1922: God goes rogue

Die 20er Jahre: Federboas. Stummfilmkino. Und der unglaubliche Optimismus, dass Radioaktivität alle Lebensbereiche besser machen wird – bis hin zur Zahnpasta. Außer wir fragen Karel Čapek, den tschechischen Meister des Zukunftspessimismus. In seinem Roman Das Absolutum (Továrna na absolutno) entfesselt er die Macht, die alles bewegt: Gott. Oder vielleicht auch nicht? Jedenfalls steckt sie in allen Dingen, man muss sie nur auf Teilchenebene zerschlagen. Klingt irgendwie vertraut? Karel Čapek ist dafür bekannt, dem technischen Stand seiner Zeit literarisch voraus zu sein: Zusätzlich zur Idee der Kernspaltung – und ihrer unvermeidlichen Folgen – hat er außerdem das Wort „Roboter“ erfunden. Zwar in einem anderen Werk – dafür liest sich Das Absolutum allerdings ungleich skurriler. Und um einiges lustiger.

1957: Rindfleisch in Schwerelosigkeit

„Hallo, ich bin der von Mittwoch. Bist du der Montag?“ ist ein Satz, den wir nicht allzu oft hören. Es sei denn, wir lesen Stanislav Lems Sterntagebücher (Dzienniki gwiazdowe): In ihnen beschreibt er die abenteuerlichen Weltraumreisen des polnischen Gelehrten Ijon Tichy, der in seiner Einmannrakete fremde Planeten besucht, gegen mordlüsterne Roboter kämpft und seltsamen Aliens begegnet. Science-Fiction-Standard? Bei weitem nicht! Denn Lem schreibt seine Kurzgeschichten nicht nur unglaublich intellektuell und kritisch – sondern auch extrem selbstironisch. Da kann es eben schon mal vorkommen, dass der Held der Geschichte sich selbst in mehrfacher Ausführung begegnet und sich gar nicht grün ist – was in direkten Gegensatz zu der Scheibe schlechten Rindfleischs steht, die in Schwerelosigkeit um die Rakete kreist. Ein Buch genial zum Zeittotschlagen, wenn mensch in Zeitschleifen feststeckt.

1966: Upgespicter Space-Epos

Wer hat Dune noch nicht im Kino gesehen? Empfehlungen gehen raus! Aber auch die Buchvorlage hat einiges zu bieten: Im Gegensatz zum Film ist Der Wüstenplanet, wie der deutsche Titel heißt, ein langsam aufgebautes Epos, das die Welt Arrakis und ihre politischen Probleme genau beleuchtet. Das führt dazu, dass wir einen unglaublich facettenreichen Einblick in das Universum Frank Herberts, Autor von Dune, erhalten: Wir lernen nicht nur die indigenen Fremen genauer kennen, sondern auch die Familie des Hauptcharakters, ihre Gegner und den großen Plan, der hinter der ganzen Handlung steckt. Und natürlich dreht sich auch im Buch alles um das geheimnisvolle Gewürz, das interstellares Reisen ermöglich und eine ähnliche Rolle wie Öl spielt – nur, dass es auch den Geist erweitert, die Augenfarbe verändert und, natürlich, süchtig macht. Das macht Dune ganz sicher auch: Wer nicht auf den zweiten Film warten kann, der sollte zum Buch greifen. Es gibt eine ganze Reihe davon.

1969: Das fluide Geschlecht

Aus heutiger Sicht mag Die linke Hand der Dunkelheit (The Left Hand of Darkness) vielleicht etwas veraltet wirken: Alle dort vorkommenden Figuren werden als maskulin gegendert, obwohl sie nonbinär sind. Selbst die Hauptfigur, Genly Ai, erzählt aus einem zweigeschlechtlich dominierten Blickwinkel. Die Idee an sich ist für 1969 allerdings ganz außerordentlich: Die Menschen vom Eisplaneten Gethen besitzen nur ein einziges Geschlecht – und das ist fluide und wechselt zur monatlichen Paarungszeit. In diese Welt wird Erdbewohner Genry Ai hineingeworfen: Er ist als Diplomat auf Gethen und soll den Erstkontakt herstellen. Ein hartes Ränkespiel in einem noch härteren Klima beginnt. Und je mehr sich Ai mit den Gethener Gepflogenheiten auseinandersetzt, desto mehr hinterfragt er seine eigenen. Addieren wir dazu noch geniale Landschaftsbeschreibungen von Schnee und Eis, kommt ein Buch dabei raus, das es wert ist, gelesen zu werden.

1972 – Die verbotene Zone

Verbotene Zonen gibt es häufig in der Endzeit- Fiction: Zum Beispiel in Auslöschung oder Metro. Eins der frühesten Werke über ein verseuchtes Gebiet ist allerdings der 1957 erschienene Roman Picknick am Wegesrand (Пикник на обочине). Der Titel mag vielleicht ja nach Sonnenschein und Gänseblümchen klingen. Aber Boris und Arkadi-Strugatzki haben die Idee des Sommerpicknicks in etwas viel Düsteres verwandelt: Aliens haben die Erde besucht und Spuren hinterlassen, wie Touristen auf einem Rastplatz. Im Gegensatz zu ihnen besteht die Menschheit nur aus Ameisen. Und genau so gierig wie unsere insektoiden Freunde versuchen wir, möglichst viel der Hinterlassenschaften für unsere Zwecke beiseite zu schaffen. Selbst, wenn wir gar nicht wirklich wissen, was sie mit uns anstellen.

1974: Der Zeitdilatationseffekt

In Joe Haldemans Roman Der ewige Krieg (Forever War) dreht sich alles darum, dass sich die Menschheit – wer hätte das gedacht – mit den Tauriern in einem unendlich erscheinenden Konflikt befindet. Ermöglicht wird das durch den Zeitdilatationseffekt: Während des Reisens mit Lichtgeschwindigkeit vergehen für die Soldaten nur wenige Monate, auf der Erde jedoch Jahre. William Mandella, der zu den ersten Rekruten gehört, erlebt so nicht nur den gesamten Krieg mit, sondern auch die Evolution, die die irdische Gesellschaft durchläuft. Der Kampfeinsatz wird immer mehr ein Zuhause für ihn, trotz des immer anwesenden Todes. Das Themen Vietnam und Friedensbewegung schwingen in diesem Roman sehr stark durch. Das Thema „Homosexualität“, das viel Raum in der Erzählung einnimmt, wirkt leider etwas stiefmütterlich behandelt – der literarische Zeitdilatationseffekt hat zugeschlagen. Dennoch ist das Buch immer noch irrsinnig spannend geschrieben und bekommt deswegen eine Leseempfehlung.

1979: Zweiundvierzig

Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest – es sei denn, wir suchen in den Weiten des unwirtlichen Weltraums eine Tasse guten, englische Tee. In seiner Romanreihe Per Anhalter durch die Galaxis (The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy) lässt Douglas Adams einen Rundfunkmitarbeiter zu den Sternen reisen. Natürlich wider Willen. Und nur mit einem Handtuch bewaffnet gegen zahllose Monster wie Bürokraten, Expräsidenten und Mäuse. Das Buch selbst ist gewürzt mit so vielen Anekdoten, Anspielungen und Zufällen, dass es geradezu unglaublich ist, dass die Geschichte hinterher noch einen Sinn ergibt. Und wer dem Autor die Ausrede des verfrühten Ablebens verzeihen kann, bevor der letzte Band der Reihe fertig war – der*die sollte unbedingt mal reinlesen.

1989: John Keats ist nicht totzukriegen

Dass der Titel von Dan Simmons Roman im Deutschen das Wort „Gesänge“ beinhaltet wie ein antikes Epos, ist absolut gerechtfertigt. Im Original heißt die Dilogie zwar nur Hyperion – aber das Lesefeeling bleibt: Hier hat sich ein Autor wirklich Gedanken gemacht, worüber und wie er schreibt. Der erste Teil liest sich wie eine Kurzgeschichtensammlung, der zweite Teil wie ein Thriller. Alle Bereiche der Gesellschaft, Kunst, Technik, Religion, Politik und Weitere werden besprochen. Der Inhalt: komplex. Sieben Pilger brechen zu den geheimnisvollen Zeitgräbern auf, um dem Shrike zu huldigen und nur sechs werden überleben. Die Regierung befindet sich im Krieg mit mutierten Menschen, der TechnoCore plant eine Verschwörung und aus irgendeinem Grund ist der Dichter John Keats wieder am Leben. Wer wissen möchte warum, sollte zu den Hyperion-Gesängen greifen – und dafür jede Menge Geduld mitbringen. Denn ein Schnellleseroman ist die Dilogie zwar nicht – aber gerade deswegen absolut lohnenswert.

2015: Afrofuturismus

Wusstet ihr, dass Afrika ein eigenes Spaceprogramm besitzt? Die kongolesischen Raumfahrer sollen den Namen Galaxionauten tragen. Zusätzlich zu großen Träumen rückt auch Afrikazentrierte Science-Fiction immer mehr in den Mittelpunkt unseres Bewusstseins. Zum Beispiel die Romanreihe Binti der amerikanisch-nigerianischen Autorin Nnedi Okorafor. Sie schreibt aus einer einzigartigen Sichtweise, in der futuristische Technologien, Familienverband und Naturverbundenheit gleichberechtigt Seite an Seite stehen. Binti berichtet über eine junge Frau, die Regeln bricht, sich selbst verliert und schließlich zu etwas gänzlich Neuem wird. Frisch und bislang nie dagewesen, so liest sich auch diese Reihe. Wer also einmal über den westlich-zentrierten Lesehorizont schnuppern möchte, dem*r sei Binti ans Herz gelegt.

2019: Burn before Reading!

Rot gegen Blau, Cybertechnik gegen Bioengineering – doch das Ergebnis ist immer das gleiche: Ein ewiger Zeitkrieg, quer durch alle Epochen. Egal welche Zeitlinie manipuliert wird, welches Ereignis verhindert, wie viele Antlantisse versenkt – eine Agentin übertrumpft immer die andere. Und umgekehrt. Bis plötzlich ein Fremdkörper das Netz aus Zeitsprüngen und Intrigen durchbricht: Ein Brief. So entspinnt sich ein Briefroman der besonderen Art, geschrieben aus wechselnden Perspektiven, von wechselnden Orten. Amal El-Mohtar und Max Gladstone kreieren in ihrem Roman So verliert man den Zeitkrieg (How to loose the Time War) eine wirklich einzigartige Leseerfahrung. Spitze Kommentare, Insider und einige heftige Flirts sind das Mindeste, was der Roman zu bieten hat: Das i-Tüpfelchen sind in jedem Fall die einzigartigen Settings.

Das Grau des Tages wurde durch das Schwarz der Nacht abgelöst. Eine sternenlose Nacht, mit vereinzelten Hubschraubern: Wir sind zurück in der Gegenwart, wieder in den eigenen vier Wänden. Gelegenheitsreisenden in die Buchwelten der Science-Fiction wird sicher aufgefallen sein, dass in den Empfehlungen einige Klassiker fehlen: Das ist Absicht, in der Hoffnung, dass vielleicht auch routinierte Leser*innen eine Neuentdeckung machen können. Denn: Selbst Sofareisen bildet. Mindestens die Fantasie.  

Von Friederieke Butzheinen

Beitrag erstellt am: 30.05.2024 um 08:45 Uhr
Letzte Änderung am: 30.05.2024 um 08:45 Uhr