Im September 2022 erschien der Antikriegsfilm Im Westen nichts Neues. Produziert wurde er unter der Regie von Edward Berger; Felix Kammerer spielt den Protagonisten Paul Bäumer, die Nebenrollen Matthias Erzberger (gespielt von Daniel Brühl) und Stanislaus „Kat“ Katczinsky besetzt (Albrecht Schuch) zeugen von einem starken Cast. Mit einer Laufzeit von 148 Minuten und siener Freigabe ab 16 Jahren fesselt er auf der Streamingplattform Netflix wie auch vor den Kinoleinwänden ein internationales Publikum. Besonders ist, dass diese Produktion eine deutsche ist, während die erste und bis hierhin erfolgreichste Produktion eine amerikanische war. Warum der Film zurzeit so wichtig ist, erfahrt ihr in dieser Rezension.
Paul träumt mit seinen Freunden im Jahr 1917 vom heldenhaften Kampf auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges. Angestachelt von den Lehrern seiner Schule will er vor seinen Freunden nicht als Feigling dastehen und meldet sich freiwillig mit ihnen zum Kampf. Die jungen Männer freuen sich und hoffen darauf, dass sie „bald auf Paris“ marschieren. Stolz holen sie ihre Uniformen ab, treten weg und werden nach kurzer Ausbildung an die Westfront gekarrt, wo sich der Stellungskrieg in vollem Gange befindet. „Raus aus dem Klassenzimmer – rein in den Feldkampf“ denken sich Paul und seine Freunde noch, als sie sich der Frontlinie nähern.
Doch schon nach kurzer Zeit sind die ersten Einschläge des Artilleriefeuers zu hören und die Stimmung beginnt zu kippen. Noch nicht bei ihren Stellungen, gibt es auf offenem Feld den ersten Angriff mit Giftgas. Als sie im Graben sind, müssen sie Nachts auf den Wachposten. Etwas bewegt sich. „Unsere ersten Franzosen“ sagt sein Freund; Paul legt an und schießt ins Nichts. Kurz darauf wird er von einem Scharfschützen nur knapp verfehlt und der Prozess der Desillusionierung schreitet voran. Der Veteran „Kat“ weist ihn an, in Bewegung zu bleiben. Im ersten Artilleriebeschuss sterben einige seiner Freunde – Paul bleibt keine Minute des Verarbeitens und dem Zuschauer auch nicht. In den Kampfszenen gibt es wenige Schnitte, das gesamte Grauen wird schonungslos gezeigt und im Fortschreiten des Filmes werden die Grabenkämpfe immer intensiver. Ein Gefühl dauerhafter Anspannung, das bis zum letzten Gefecht nicht abnimmt. Während eines Angriffes im Graben werden Soldaten aus dem Regiment von Paul lebendig von Panzerketten überrollt oder verenden brennend beim Versuch, ihrer Stellung zu entkommen. Die heroischen Geschichten, die Reden, welche Pauls Lehrer und Rektoren in der Schule geschwungen haben, sie wirken seltsam fern.
Es häufen sich antagonistische Schnitte zum Diplomaten Matthias Erzberger in den ruhigen Zugwagon der Politiker und hohen Militärs, welcher in ewiger Langsamkeit einen Waffenstillstand zu erwirken versucht. Doch dem will niemand so recht nachkommen – die französischen Militärs beschweren sich über das Croissant vom Vortag, ein deutscher Feldherr blickt verbissen in die Zukunft: „In ein paar Wochen rückt der nächste Jahrgang nach“. Durch diesen krassen und direkten Schnitt werden die Unterschiede deutlich zwischen denen, die jeden Tag wie Schweine zur Schlachtbank geführt werden und denen, die Jugendliche in gut beheizten Zimmern zum Tode verurteilen. Denn im Jahr 1917 an die Front geschickt zu werden, glich einem Todesurteil.
Im Grabenkampf findet eine radikale Entmenschlichung statt. Durch die Wahl zwischen „Er oder ich“ werden die jungen Soldaten dazu gezwungen, ihre Gefühle abzuschalten. Sie massakrieren sich gegenseitig mit allem was sie haben und es gibt nur einen Weg, nämlich vorwärts, in den Graben des Gegners hinein, oder vorwärts, um diesen abzuwehren. Diese perverse Eskalation der Gewalt ist nur durchzustehen, indem man den Gegner nicht mehr als Menschen wahrnimmt, nicht mehr als einen Studenten, einen Schlosser, einen Familienvater oder einen Schüler. Nicht mehr als einen, der man selber letzten Endes auch ist. Dieses Dilemma wird in einer Schlüsselszene aufgezeigt, in welcher zwei befeindete Soldaten in einem Granatenkrater bis aufs Blut kämpfen. Einer der beiden schafft es schließlich, den anderen zu töten, und während der zum Tode Verdammte gurgelnd an seinem Blut erstickt, realisiert der noch Lebende, dass er einen Menschen vor sich hat, dem er gerade das Leben nahm. Er nimmt die Dienstmarke des anderen. Er wimmert. Realisiert, dass dieser Vater war, als er in seiner Westentasche ein Foto findet. „Pardon“. Er wiederholt die Entschuldigung, versucht die Wunde zu reinigen, hält die Hand des Sterbenden und bereut sichtlich, was er noch vor kurzem gar nicht hinterfragt hat. Zögern ist dem Frontsoldaten nicht vergönnt, denn funktionieren muss er.
Der Regisseur Edward Berger schafft es, die Zuschauenden für die Dauer des Filmes mitten in das Grauen des Krieges zu holen. Natürlich ist der Prozess des Erlebens vor der Kinoleinwand ein grundsätzlich anderer, als selber im Graben zu sitzen, doch fühlt sich der Krieg in diesem Moment sehr real an. Während man als Zuschauer*in versucht, die sich auf der Leinwand abspielenden Dinge zu greifen, wird die unglaubliche Sinnlosigkeit und die Willkür des Sterbens sehr wirkmächtig. Es ist schwer sich zu entscheiden, was schlimmer anzusehen ist: die Szene des Zweikampfes im Granatenkrater, die Brutalität des Grabenkampfes oder die pervers wirkenden Wechsel zu den mit Schweigen und falschem Stolz gefüllten Zugwagons. Die Absurdität und Hilflosigkeit, der Wunsch, durch die Leinwand zu greifen und die Generäle einmal kräftig zu schütteln, werden in Matthias Erzberger personifiziert, welcher in einer Szene den Tiraden des falschen Heroismus entgegnet, sein Sohn sei im ersten Kriegsjahr 1914 gestorben – und an seinem Tod sei nichts heldenhaftes gewesen. Er sei im Schlamm verreckt.
Der Angriffskrieg der russischen Führung auf die Ukraine am 24. Februar des vergangenen Jahres hat das Thema Krieg und auch die damit verbundenen Ängste wieder in das öffentliche Bewusstsein geholt – einerseits durch seine Nähe zu West- und Mitteleuropa und andererseits, weil im Falle einer weiteren Eskalation mehr Staaten hineingezogen würden und ein neuer Weltkrieg drohen würde.
Im Westen nichts Neues kommt also genau zu einer Zeit in die Kinos, in denen die Zeichen nicht gut stehen – und zeigt ganz konkret, was der Krieg mit den Menschen macht. Er zeigt die Sinnlosigkeit der Kriegstreiberei, die Engstirnigkeit der Befehlshabenden und die Willkür des massenhaften Sterbens. Nach dem Film bleibt nur eine merkwürdige Stille, die mit Fassungslosigkeit über die vorher gezeigten Bilder gefüllt ist. Man ist gezwungen, hinzusehen und gleichzeitig will man nicht – ein Antikriegsfilm also, der schonungslos funktioniert. Im Westen nichts Neues bricht nicht nur förmlich durch die Kinoleinwände der Zuschauer, wegen der gewaltigen Bilder und bewegenden Szenen ist er auch für 9 Oscars nominiert, darunter „bester Film“ und „bester internationaler Film“. Vier Oscars hat er bekommen, darunter auch den zuletzt genannten.
Im Westen Nichts Neues
Produktionsort/Erscheinungsjahr: Deutschland, Vereinigte Staaten und Großbritannien, 2022
Regie: Edward Berger
Laufzeit: 148 Min.
Schauspieler:*innen Felix Kammerer, Edin Hasanović, Albrecht Schuch, Aaron Hilmer, Daniel Brühl
Von Dominik Ohletz
Beitrag erstellt am: 28.05.2024 um 08:16 Uhr
Letzte Änderung am: 28.05.2024 um 08:16 Uhr
Über Dominik Ohletz
… studiert Romanistik – Spanisch und Afrikanistik an der Universität zu Köln und hat ein reges Interesse an sozialwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Texten und Autor*innen. Er selbst beschäftigt sich gerne mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen.