Ohnmächtig

Stilles verzweifeln. Foto: Lilli Raiser.

Weltschmerz – Wenn die Welt einem das Herz bricht

“Ein Gefühl der Trauer und schmerzhaft empfundener Melancholie, die jemand über seine eigene Unzulänglichkeit empfindet, die er zugleich als Teil der Unzulänglichkeit der Welt, der bestehenden Verhältnisse betrachtet.” So definierte der Dichter und Denker Jean Paul Ende des 17. Jahrhunderts den Begriff “Weltschmerz”.

Clara und ich sitzen wie so oft zusammen am Küchentisch. Es geht um diese niemals endenden Themen. Geschehnisse, die sich so leicht verdrängen lassen, aber manchmal kommt alles einfach hoch: der Klimawandel, sterbende Tiere, Kinder und Lebewesen, AfDPolitiker* innen, die neue menschenverachtende Pläne schmieden. Je länger das Gespräch andauert, umso verzweifelter werden wir. Wie können wir hier sitzen? In unserer eigenen Wohnung, umgeben von Wohlstand, während andere nun ihre zweite Woche in einem Bunker überstehen müssen?

Freitag Abend

Die Frage, die mich viel mehr beschäftigt: Wie können Politikerinnen nachts ruhig schlafen, wenn das normale Leben für viele schon ein Luxus ist? Wenn sie Versprechen geben, dass es bald allen so gehen wird. Oder ganz anders: Wenn sie sich für Themen stark machen, die uns immer weiter in Ungerechtigkeit und Schmerz reinreiten. Doch die wichtigste aller Fragen: Wie kommen wir hier raus? Wie verändern wir etwas? Wo fängt man an? Alleine oder als Gesellschaft?

Das ist jetzt ein paar Wochen her

Und ich erinnere mich, dass wir ein ähnliches Gespräch schonmal vor circa zwei Jahren geführt hatten. Clara erzählte mir, dass es sie manchmal so fertig machen würde: Zu wissen, was alles auf dem Spiel stehe, und dass das gefühlt niemanden mehr interessieren würde. In den letzten beiden Jahren hat sich wenig verändert. Der Klimawandel und die lasche Umgangsweise damit. Der ein oder andere Krieg mehr. Das alles zieht sich wie ein grauer Schleier durch unsere Leben. Unsere Leben, die eigentlich gerade so unbeschwert sein könnten: die erste WG, neue Leute, Verantwortung, Studieren.

Viele Entscheidungen mussten wir jetzt selber treffen, auch die Wahl unserer Studienfächer – teilweise Ergebnis dieser Ohnmacht, die wir so oft verspürten. Biochemie, weil man das für den Umweltschutz gut gebrauchen kann. SoWi, weil ich mir irgendwie erhoffte, eine Antwort darauf zu bekommen, warum Menschen so kollektiv ignorieren und verdrängen.

Doch die wichtigste aller Fragen: Wie kommen wir hier raus? Wie verändern wir etwas? Wo fängt man an? Alleine oder als Gesellschaft?

Ein weiterer Freitag Abend

Damals wohnte ich noch zu Hause. Zusammen mit meiner Mutter schaue ich eine Doku über den Klimawandel. Kipppunkte, Polschmelze, Artensterben. Die Begriffe rotieren in meinem Kopf. Ich sehe Menschen: überflutet, schwimmend im Müll, ohne Nahrung, denn die Meere sind überfischt. Flüsse sind kontaminiert. Die Decke, die ich um mich schlinge, wird immer enger um meine Brust. Warum tut das nur so weh? Mir steigen Tränen in die Augen und ich fühle mich so erdrückt von diesem Bericht. Ganz langsam rollen die Tränen meine Wangen hinunter, als wären sie ebenso erschöpft wie ich. Mama ist erschreckt und fragt mich, was denn los sei. Ich muss mich erstmal wieder fangen. “Das alles macht mir so viel Angst, vor allem, dass sich nichts verändert. War das schon immer so?” Sie erzählt mir, dass sie auch schon damals in den 80ern wussten, was da mit dem Klima passiert, aber irgendwie war das doch so weit weg.

Gedanken und Meinungen zu dem Thema

“Weltschmerz”, ich kenne kaum jemanden, der dieses Gefühl der Machtlosigkeit nicht kennt. Manchmal ist er wie ein Strudel, der einen immer tiefer hinabzieht, bis man sich nicht mehr richtig daraus befreien kann. Viele sind erstarrt, weil sie nicht wissen wo sie anfangen sollen. Clara sagt, dass ihr manchmal sogar übel wird. Und weil ich weiß, dass wir damit nicht alleine sind, habe ich einige Freund*innen gebeten, mir ihre Gedanken zu dem Thema mitzuteilen.

Ich war wenig überrascht über die Antworten, Weltschmerz war fast allen ein Begriff. Und trotzdem bricht es mir ein bisschen das Herz zu hören, wie schlecht es manchen von ihnen damit geht. “Wenn ich an das ganze Grausame in der Welt denke, dann kriege ich oft so ein sehr beengendes und auch schmerzhaftes Gefühl in mir”, vertraut mir eine Schulfreundin an. Für sie fühlt sich das Ganze manchmal wie eine Dystopie an.

Coping-Mechanismus (Bewältigungsstrategie) Nummer Eins ist bei vielen wohl Verdrängen. “Unterdrücken, damit es mir mental weiterhin gut geht”, erklärt mir eine Kommilitonin. “Mit vielen Sachen beschäftige ich mich näher und schaue andere Videos und Beiträge an, aber oft sieht die Welt dann immer so schrecklich aus und dann muss ich mich wieder mit was anderem beschäftigen. Ich glaub, ich kann mit schlechten Nachrichten nicht so gut umgehen, da ich schnell Angst vor der ganzen Welt kriege“, ergänzt sie.

Aber auch das Gegenteil ist der Fall: “Da ich mich in den meisten Fällen in einer privilegierten Position befinde, empfinde ich es als meine Pflicht, nicht wegzuschauen und mich über diese Themen zu informieren.“ „Man sollte Motivation zur Veränderung aus diesen starken Gefühlen ziehen!”, betont ein guter Freund von mir.

Mit anderen ins Gespräch zu kommen und sich über Situationen und Konflikte, aber auch die damit zusammenhängenden Ängste auszutauschen, empfinden die meisten als eine Entlastung: “Allerdings hilft es auch sehr mit anderen darüber zu reden, den Frust abzulassen oder konkret ins Handeln zu kommen: demonstrieren zu gehen, sich weiterzubilden, Petitionen zu unterschreiben, anderen davon zu erzählen […], die unangenehmen Gespräche zu führen, bei einer sozialen/ politischen Organisation aktiv zu werden, und Ähnliches”.

Gemeinsam allein. Foto: Lilli Raiser.

Abstand zu gewissen Themen und Inhalten zu nehmen scheint manchmal dennoch der einzige Ausweg. “Ich hab auf TikTok & Instagram ’ne zeitlang öfter mal tote Kinder aus Palästina angezeigt bekommen, also so richtig Footage von deren Leichen. Das konnte ich nicht mehr sehen; nach dem Aufstehen, beim Chillen, wo auch immer”, meinte meine Mitbewohnerin zu mir. Israel und Palästina scheint ein Thema zu sein, das uns alle besonders bedrückt: “Wenn ich auf der Arbeit Radio hören muss und der WDR […] über Israel und Palästina berichten, werde ich so wütend und traurig, dass ich das Radio einfach abschalte und die 8 Stunden in Stille arbeite.”

Was ich mich auch gefragt hatte, war, ob Nachrichtenkonsum durch “Weltschmerz” beeinflusst wird. Schließlich tragen besonders schlechte Nachrichten zu diesem Gefühl bei. Ich kann es absolut nachvollziehen und neige auch selber dazu, manchmal einfach abzuschalten. Im wahrsten Sinne des Wortes. Möglichst weit weg von allem. Durch Social Media wird das natürlich immer schwieriger und die schlimmen Nachrichten immer allgegenwärtiger. Man kann ihnen fast nicht mehr entkommen. Eine Bekannte sagte zu mir: “Wenn es mir emotional schlecht geht, vermeide ich es, Nachrichten zu lesen, da ich dann das Gefühl habe, es gäbe sowieso nur „schlechte“ Nachrichten, die mich noch mehr runterziehen würden.”

Auf der anderen Seite, ist es ein enormes Privileg, von überall über Konflikte, Ungerechtigkeiten auf der ganzen Welt zu erfahren. Das ist schließlich unfassbar wichtig, damit sich etwas ändern kann. Damit Menschen ihre Freiheit, ihr Leben zurückbekommen können. „Seit dem Geheimtreffen und den Demos gegen die AfD (Anmerkung der Redaktion: Alternative für Deutschland), lese ich vor allem zu diesem Thema viel, da es unmittelbar vor meiner Nase passiert und mich aktiv betrifft!“, sagt eine Freundin.

Auch die Kommilitonin von mir erzählt: “Ich gucke weniger aktiv Nachrichtensendungen, aber das will ich eigentlich auch wieder ändern. Ich hab nämlich das Gefühl, dass mich schlechte Nachrichten weniger traurig machen, wenn ich sie sachlich erklärt bekomme, als wenn ich immer nur Schnipsel und Ausschnitte darüber mitbekomme.“

“Da ich mich in den meisten Fällen in einer privilegierten Position befinde, empfinde ich es als meine Pflicht, nicht wegzuschauen und mich über diese Themen zu informieren.“

Haben wir persönlich überhaupt einen Einfluss auf die Dinge, die uns eben so große Angst machen und von denen wir uns so sehnlich Veränderung wünschen? Hier bekomme ich gemischte Antworten. Manche fühlen sich völlig ausgeliefert: “Keinen Einfluss auf die Dinge, die mir „Angst“ bereiten [zu haben], genau das ist ja der Knackpunkt.“; „Ich hab das Gefühl, ich bin dem ausgeliefert und ich muss das einfach aushalten.” Genauso sieht das meine Mitbewohnerin: “[…] Weltschmerz bezieht sich für mich oft genau darauf, dass ich das Gefühl habe, dass so viel Schlimmes auf der Welt passiert, dass es aussichtslos ist.”

Andere wiederum sehen in der Hoffnung die Kraft für neue Ansätze und Lösungen: “Es gibt mir oft Hoffnung, wenn ich das Gefühl habe, einen Einfluss auf Ereignisse nehmen zu können, auch wenn dieser meistens eher klein ist. Die Hoffnung ist das, was mich motiviert politisch zu bleiben. Und es ist verdammt wichtig, politisch zu bleiben und Haltung zu zeigen. Das hilft schon mehr, als einem manchmal bewusst ist.”

Können wir als Individuen überhaupt etwas erreichen, oder müssen wir erst kollektiv werden, damit unser Handeln eine Wirkung zeigt? Eine Freundin sagt dazu: “Nicht so sehr, ich sehe mich gerne in einer Gruppe, also ich denke, dass kollektive Bewegungen einen Einfluss haben können, aber nicht ich alleine.” Ein anderer Kommilitone von mir stimmt ihr zu: “Das kommt genau auf das Thema an, als Einzelner natürlich nicht viel, aber diesen Schmerz fühle ja nicht nur ich und dementsprechend schließt man sich zusammen und fühlt sich gleich gar nicht mehr so hilflos.” Das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit scheint für einige ein gutes Hoffnungsmittel: Auf Demos zu gehen, Petitionen zu unterschreiben und zusammenzuhalten. Aber: “Trotzdem lässt mich das Gefühl nicht los, egal was man macht, die Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit begleitet einen stets, vor allem wenn man Angst hat.”

Anfangen ist schwer, besonders neben all dem Alltagsstress, gesellschaftlichen Erwartungen und Selbstkomplexen. Mir hilft aber immer wieder: Auch unser eigenes Handeln bringt kleine, wichtige Veränderungen, die man nicht außer Acht lassen sollte. Ich weiß, im Vergleich wirkt das immer nicht genug, aber oft ist es das Einzige, das wir tun können und ist kollektiv doch wirksam.

Ich habe auch kein Rezept gegen Weltschmerz. Ich denke, es ist das Symptom der Kaputtheit unserer vielen Systeme. Aber immerhin zeigt es uns die Verbundenheit und Empathie zu- beziehungsweise füreinander. Vielleicht ist das am Ende das Ausschlaggebende, um Veränderungen stemmen zu können und immer weiter zu machen!

Von Lilli Raiser

Beitrag erstellt am: 09.05.2024 um 13:39 Uhr
Letzte Änderung am: 09.05.2024 um 13:39 Uhr