Fast sechs Jahre sind seit dem Beginn der MeToo-Bewegung vergangen und das Thema der sexualisierten Gewalt gegenüber Frauen behält nach wie vor seine Relevanz. Die soziokulturelle Auseinandersetzung mit diesem Problem gewinnt seitdem allerdings eine neue Dynamik. Und wie die Ausstellung SUSANNA – Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo im Kölner Wallraf-Richartz-Museum (28. Oktober 2022 – 26. Februar 2023) gezeigt hat, ist der MeToo-Diskurs auch in der bildenden Kunst bei weitem kein neues Phänomen. Anhand des Susanna-Sujets verhandelt diese Ausstellung das Problem der sexualisierten Gewalt sowie des geschlechtlichen Machtgefälles auf eine neue Weise. Sie lässt die Besucher*innen in die Atmosphäre der visualisierten Nötigung Susanna emotional eintauchen und ruft indirekt zur Stellungnahme auf. Die Ausstellung zeichnet sich nicht nur durch ihre brisante Thematik, sondern auch durch die Exklusivität mancher Werke, die aus berühmten Museen wie der National Gallery in London, dem Musée d’Orsay in Paris, dem Frankfurter Städel und den Uffizien in Florenz nach Köln gebracht wurden.
Die hochklassigen Werke, die in dieser Ausstellung zu betrachten waren, beruhen auf der ursprünglich jüdisch-hellenistischen Susanna-Erzählung, die sich in der vorchristlichen Zeit in der Stadt Babylon abspielt. Die tugendhafte und bildschöne Susanna wird von zwei mit Wollust und Triebhaftigkeit erfüllten Richtern durch Erpressung zur sexuellen Gefügigkeit gezwungen: Wenn sie sich den beiden Männern nicht ergibt, wird sie der Untreue an ihrem Ehemann beschuldigt. Die Frau bleibt standhaft und verweigert sich den beiden Richtern. Nachdem sie öffentlich für schuldig gesprochen wird, erscheint der Prophet Daniel, um die Wahrheit aufzudecken und die Susanna zu retten. Dafür befragt er die beiden Verbrecher, allerdings getrennt voneinander. Er fragt die Alten, unter welchem Baum Susanna ihren Ehemann betrogen haben soll. Nachdem die Richter unterschiedliche Zeugenaussagen ablegen, wird die Unschuld der Susanna klar und die beiden Lügner werden zum Tode verurteilt.
Die Ähnlichkeit, die zwischen der sexualisierten Gewalt gegenüber der Susanna und den jüngsten Vorfällen herrscht, ist kaum zu übersehen. Auch wenn moderne Frauen keinen rettenden Propheten an ihrer Seite haben, ist das Szenario erschreckend gleich: Gesellschaftlich höher gestellte Männer nutzen ihre Macht gegenüber beruflich oder sozial inferioren Frauen aus, um diese sexuell gefügig zu machen. Folglich, MeToo und seine kulturelle Präsenz haben lange vor unserer Zeit existiert. Auf diese Tatsache macht auch der Prolog der Ausstellung aufmerksam: „Die öffentliche Debatte zu Machtmissbrauch und sexueller Gewalt wird vor allem mit der Filmindustrie verbunden. Doch wurde die Thematik bereits seit Jahrhunderten in den Künsten verhandelt – im Bild der Susanna.“
„Die an sich stumme Darstellung des sexuellen Übergriffs schreit nach Hilfe und löst starkes Mitgefühl aus.“
Die Darstellung von Susannas Schicksal in der Malerei ist vielfältig. Die zwei bekanntesten Motive sind allerdings Susanna im Bade und Susanna und die (beiden) Ältesten. Während das erste Motiv den eher passiven Voyeurismus darstellt, zeigt uns das zweite Sujet den Moment des eigentlichen sexuellen Überfalls. Die Ausstellung besitzt von Anfang an eine klare Struktur, die einen Leitfaden bildet und Susannas ergreifender Geschichte in all ihren Facetten und künstlerischen Erscheinungen gerecht wird. Denn auch wenn die Gemälde gleiche Motive darstellen, lebt in jedem Bild seine eigene, äußerst bewegende Geschichte, die nachhaltig fesselnd wirkt. Die Bilder, die den Besucher*innen verschiedene Susanna-Interpretationen enthüllen, stammen von berühmten Künstler*innen wie Édouard Manet, Massimo Stanzione, Rembrandt, Eugène Delacroix, Artemisia Gentileschi und anderen.
Die Besonderheit und somit die Wirkung jeder gemalten Susanna steckt in ausgeklügelt eingebauten Details: im Farbenspiel, in der Intensität der Blicke, in Körperhaltungen, in Gesten und Mimik. Fast oder gänzlich entblößte Susanna mit einem um die Hüfte gelegten weißen Gewand, schutzlos und ihrem Schicksal ausgeliefert, erinnert die Betrachter*innen schon fast an die Darstellung von Jesus. Ihr meistens geöffneter Mund, die ausgestreckte Hand, die gekreuzten Beine – Zeichen des Widerstands und der Unschuld. Die beiden Alten werden währenddessen als gierige Verbrecher, als unerwünschte Eindringlinge oder sogar als, an die Laokoon-Geschichte angelehnt, Schlangen interpretiert. Die an sich stumme Darstellung des sexuellen Übergriffs schreit nach Hilfe und löst starkes Mitgefühl aus.
Besonders spannungsgeladen und reflexiv präsentiert sich außerdem der Ausstellungsbereich Appell ans Publikum, wo Bilder ausgestellt sind, in welchen Susannas Blick auf die Besucher*innen gerichtet ist. Sie sind plötzlich ein Teil des Geschehens und müssen selbst entscheiden, ob sie als aufgebrachte Zeug*innen oder als passive Mittäter*innen fungieren. Eine über die Grenzen der Kunst hinaus reichende Interpretation, die auf eine kluge Weise zur Positionierung in der MeToo-Debatte aufruft.
„Was dieser Ausstellung außerdem gelingt, ist die Distanz zwischen Susanna und dem Publikum zu verhindern.“
Die Atmosphäre der Ausstellung ist emotionsgeladen, denn dabei geht es nicht nur um Kunst. Die Funktion der ausgestellten Bilder geht weit über die reine Ästhetik hinaus und wird um die soziokulturelle Aufklärung im Kontext der MeToo-Bewegung erweitert. Die Verbindung der Susanna-Bildtradition mit der MeToo-Debatte gelingt unglaublich gut und öffnet neue Räume für einen Dialog über dieses hochaktuelle Thema. Denn genau das ist eins der Ziele dieser Ausstellung, wie es auf einem ihrer Schilder steht: „Wir möchten das Motiv weder verharmlosen noch historisieren, sondern vielstimmig untersuchen und mit unserem Publikum diskutieren.“
Der organisatorisch interaktive Charakter der Ausstellung involviert die Besucher*innen und treibt den Austausch über diese Thematik voran. Dafür endet jeder Austellungsabschnitt mit einer offenen Frage, die zur thematischen Reflexion führt. Am Anfang der Ausstellung können Postkarten mitgenommen werden, auf welchen die Besucher*innen in die Sprechblase der Susanna und der Alten etwas reinschreiben können. Auf diese Weise den gemalten Figuren eine Stimme zu geben und sich darüber mit Freunden*innen oder Familie auszutauschen, berührt die Thematik der sexualisierten Gewalt auf völlig neue Weise und schafft ihr die so dringend benötigende Präsenz.
Was dieser Ausstellung außerdem gelingt, ist die Distanz zwischen Susanna und dem Publikum zu verhindern. Distanz schafft eine gewisse Gleichgültigkeit und die Illusion der Irrelevanz. Wenn die Besucher*innen aber vor dem Bild der Susanna stehen, nimmt dieses gesellschaftliche Problem und seine Folgen an Realität und Nähe zu. Susanna ist dabei als Sinnbild für alle Frauen oder alle Opfer sexualisierter Gewalt zu verstehen. Die hervorgerufene Nähe löst Nachdenken über den eigenen Umgang mit diesem Problem aus und erzeugt viele neue Fragen: Wie werden Opfer der sexualisierten Gewalt unterstützt? Wie kann ich dazu beitragen, dass victim-blaming aufhört? Welche politische Initiativen gibt es? Es gibt deutlich mehr Fragen, die in diesem Zusammenhang entstehen können und solange sie entstehen, ist dieses Problem nicht mehr privat, sondern öffentlich.
Aufgrund der Resonanz von SUSANNA auf das junge Publikum macht das Wallraf im Sommer 2023 die Wirkungskraft mit einer eigenen Präsentation sichtbar. Unter dem Titel Susanna & Du werden die Beiträge des jungen Publikums als Nachhall vom 16. Juni bis zum 15. Oktober 2023 im Wallraf gezeigt.
Von Anna Pashchenko
Beitrag erstellt am: 26.04.2023 um 07:59 Uhr
Letzte Änderung am: 15.06.2023 um 18:06 Uhr
Über Anna Pashchenko
... studiert Deutsche Sprache und Literatur sowie English Studies an der Universität zu Köln. Neben dem studentischen Alltag versucht sie ihre ersten Erfahrungen im Kulturjournalismus zu sammeln. Ihre Freizeit verbringt sie gerne mit einem Buch oder bei einer spannenden Ausstellung.