Das letzte Mal, als ich ein längeres Stück gegangen bin, war im Urlaub. Auf Reisen, da wandern die Menschen auf Berge, schlendern stundenlang durch Städte oder spazieren lange Strände entlang. Warum machen wir das?
Während wir über Pfade und durch Gassen laufen, können wir unsere Gedanken sortieren, in unserem Kopf aufräumen.
Obwohl unser Leben häufig in einem hohen Tempo stattfindet, bleibt Gehen immer etwas Langsames. Während unser Körper damit beschäftigt ist einen Fuß vor den anderen zu setzen, kann unser Kopf mal richtig zur Ruhe kommen. Schließlich ist das ja was wir wollen im Urlaub, Ruhe und Entspannung – auch für den Kopf.
Doch dann fahren wir nach Hause und vergessen all das wieder. Bahn, Auto, Fahrrad, E-Roller – im Alltag nutzen wir jede Möglichkeit, um nur keinen Meter zu Fuß zurücklegen zu müssen. Dabei würde uns auch im hektischen Alltag die Ruhe des Gehens ganz guttun.
Es gab eine Zeit, in der wir alle mehr gegangen sind. Als 2020 der erste Lockdown kam hat die ganze Welt das Spazieren für sich entdeckt. Natürlich waren unsere Möglichkeiten damals sehr beschränkt und trotzdem gab es nichts, was sich so gesellschaftsübergreifend durchgesetzt hat, wie das Spazieren. Und das kommt nicht von ungefähr.
Dass der Mensch aufrecht auf zwei Beinen läuft, hat maßgeblich zu seiner Verbreitung auf der Erde beigetragen. Unter anderem durch das Gehen haben wir uns in der Steinzeit von verwandten Tierarten abgesetzt. Das Gehen steckt sozusagen in unseren Knochen. Auch später wurde es oft zu unserer größten Waffe, denn es war der Beginn großer Revolutionen, sei es die Befreiung Indiens von der Kolonialmacht England, die Montagsdemonstrationen der DDR oder die weltweiten Demos von FridaysForFuture – sie alle begannen mit dem Demonstrieren, dem Gehen. Es war nie schnell, aber ausdauernd und nachhaltig.
Spazieren ist natürlich kein Demonstrieren. Dass wir es so gerne machen, liegt daran, daran
dass es tief in uns verankert ist und dass es uns auf mehreren Ebenen guttut. Zunächst fördert es unsere körperliche Gesundheit.
Was haben Charles Darwin und Sokrates gemeinsam? Sie gingen spazieren, regelmäßig, jeden Tag und zwar viele Kilometer. Zum Denken, zum Reden, zum Gesundwerden.
Das mag etwas hochtrabend klingen und natürlich ist das Gehen nicht mit einer Medizin zu vergleichen. Dennoch, die Mischung aus frischer Luft und ein wenig Bewegung ist etwas, was unserem Körper oft fehlt, sitzen wir doch den lieben langen Tag nur am Computer.
Der dänische Philosoph, Theologe und Schriftsteller Søren Kierkegaard sagte einmal „Ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen“. Es ist etwas am Gehen, dass viele dabei besser denken können als beim Sitzen am Schreibtisch. Auch Steve Jobs schien das zu wissen. Er war bekannt für seinen langen ausgiebigen Spaziergänge mit Apple-Chef-Designer John Ive und anderen Kollegen. Oft kommen wir zu neuem Wissen, anderen Ansichten oder großen Problemlösungen am besten, wenn wir dabei etwas anders machen. Der Biologe John Medina von der University of Washington erklärte: „Unsere Gehirne haben sich entwickelt, während wir uns bewegt haben, unsere Vorfahren gingen bis zu 19 Kilometer pro Tag. Das Gehirn will noch immer dieses Erlebnis haben.“ Schon vor vielen Jahrhunderten wurde das im alten Indien erkannt. Auf Sanskrit bedeutet alles, was ‚Gehen‘ bedeutet auch ‚Wissen‘. Doch auch im Deutschen sind diese zwei Wörter verbunden, wenn wir etwas durchgegangen sind, dann wissen wir es.
Vergangenen Sommer beschloss ich, eine Woche durch die Wildnis der norwegischen Hochebene Hardangervidda zu wandern. Was ein spaßiger Juli-Urlaub werden sollte, wurde der unbequemste Urlaub, den ich je gemacht habe. Zwischendurch sanken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt, unsere Schuhe waren dauerhaft nass und der Weg abenteuerlich. Trotzdem sind wir jeden Tag viele Stunden in der Kälte über die Berge gewandert. Unsere Wanderung war körperlich kräftezehrend und auch für meinen Kopf nervenaufreibend, denn ich musste immer aufmerksam sein, um auf den unebenen Weg zu achten oder ihn zu suchen. Eine Sekunde der Unaufmerksamkeit hieß stolpern oder verlaufen.
Doch trotz all diesem körperlichen und mentalen Stress, saßen wir am letzten Abend auf den Felsen und ich stellte fest wie ruhig ich innerlich eigentlich geworden war.
Die vielen Stunden des Wanderns hatten meinem Unterbewusstsein die Möglichkeit gegeben, alles, was mich beschäftigte einmal zu durchdenken. Dinge die ich im Alltag oft verdrängte, bekamen plötzlich ganz zwanglos die Möglichkeit sich zu entheddern. Während des stundenlangen Wanderns hatte ich eine unerwartet tiefe Ruhe gefunden.
Natürlich kann ich im Alltag nicht ständig stundenlang durch die Natur wandern.
Ganz ehrlich, eigentlich gehe ich nicht mal eine einzige Stunde, sondern höchstens zehn Minuten zur Bahn oder zum Supermarkt. Selbst das Spazieren mit lieben Menschen, was ich im Lockdown noch regelmäßig tat, habe ich aufgegeben. Keine Zeit, denke ich mir oft. Das Fahrrad oder die Bahn ist schneller und wenn ich schneller ankomme, kann ich mehr schaffen oder mehr erleben. Mehr ist immer gut, denn unser aller Zeit ist begrenzt und jede*r will gerne mehr machen. Wer mehr machen will, muss schneller sein. Gehen ist zu langsam.
Aber vielleicht denken wir da auch zu kurz.
Vielleicht messen wir das Gehen auch an den falschen Maßstäben.
Vielleicht ist das Gehen zwar körperlich langsam, doch die wahre Geschwindigkeit zeigt sich erst im Kopf, in unseren Gedanken, in der Art wie das Gehen die Wogen unseres Bewusstseins glättet.
Der Filmemacher Joseph DeChangeman jedenfalls wollte das Gehen mal auf die Probe stellen. Er ist sieben Tage lang alle Strecken, die er in Köln zurücklegen musste, zu Fuß gegangen. Von den fünf Minuten zum Supermarkt bis zu den drei Stunden zum Geschäftstermin, er richtete seinen ganzen Kalender danach aus und machte sich immer zu Fuß auf den Weg. Manchmal ohne Kopfhörer, oft aber mit Podcasts oder Hörbüchern auf den Ohren.
Am Ende überraschte ihn sein Fazit selbst. Er lernte seine Stadt neu kennen, schlief besser, wurde fitter und war generell viel besser drauf. Natürlich wurden seine täglichen Arbeitsstunden weniger, ging doch jetzt viel Zeit für’s Gehen drauf. Das Spazieren half ihm aber seine Gedanken so gut zu sortieren, dass er deutlich produktiver war, wenn er dann am Computer saß und arbeitete. Anders gesagt, er arbeitet jetzt schneller und besser. Ein Experiment, das nur für eine Woche gedacht war, verlängerte er am Ende auf unbestimmte Zeit.
Während ich das höre, macht sich in mir Zwiespalt breit. Gehen, schön und gut, aber die Termine meines Alltags lassen sich nicht einfach verschieben. Am Ende des Tages bin ich dann doch irgendwie immer zu spät dran und fahre mit dem Rad zur Bahn. Mit dem Gehen hält es sich wie mit dem Sport Machen, genug Trinken, viel Schlafen, Bücher Lesen und was nicht noch alles. Es sind Dinge, die uns zwar faktisch guttun, aber nicht die ersten Instinkte unseres Handelns sind. Wir müssen uns dazu zunächst überwinden, ehe wir die positiven Effekte spüren.
Jede*r von uns hat eine lange Agenda an Dingen, die wir denken tun zu müssen und Gehen ist sicher nicht das wichtigste davon. Es ist mir aber wichtig auf die Vorteile von etwas aufmerksam zu machen, dass wir alle jeden Tag tun, ohne dass ihm besondere Bedeutung beigemessen wird.
Von Benita Stelz
Beitrag erstellt am: 01.12.2022 um 09:39 Uhr
Letzte Änderung am: 01.12.2022 um 09:39 Uhr
Über Benita Stelz
... reist gerne durch die Weltgeschichte, egal ob zu Fuß oder auf dem Rad. In Köln pendeln ihre Gedanken zwischen ihrem Ethnologie Studium, dem Schwedisch lernen, dem Hochschulradio und Tagträumen. Am liebsten würde sie in jeder freien Sekunde all die Geschichten in ihrem Kopf aufs Papier bringen. Nur ein spannendes Buch, gutes Essen oder ein geselliger Spieleabend kann sie davon abhalten.