Corona-Pandemie, Krieg in Europa, höchste Inflationsrate seit 1951. Eine Krise folgt der nächsten und trifft weiterhin vor allem finanziell schwache Bevölkerungsgruppen: Studierende, Alleinerziehende, Rentner, Hartz-IV-Beziehende sowie Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Statt einer sozialpolitischen Zeitenwende, die aktuell dringend nötig wäre, klebt die Politik nur kleine Pflaster auf große Wunden, wie Mareice Kaiser in ihrem neuen Sachbuch „Wie viel. Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht.“ feststellt. In diesem Buch geht es in aller Offenheit um die Bedeutung und Verteilung von Geld. Die Autorin versucht herauszufinden, wie Armut abgeschafft werden könnte und warum Kapitalismus keine Option ist. Das Thema Geld wird außerdem enttabuisiert: mutig und bewegend erzählt Mareice Kaiser nicht nur ihre eigene Geldgeschichte, sondern auch die von acht weiteren Menschen, die verschiedenste soziale Verhältnisse repräsentieren und ihre Gedanken zum Thema Geld mitteilen. Denn ein Gespräch über Geld, ob privat oder öffentlich, ist der erste Schritt zu mehr Gerechtigkeit.
Ihre eigene Beziehung zum Geld sei toxisch, sagt Mareice Kaiser – sie hasst es, will es aber haben. Sie wollte es auch als sie zwölf Jahre alt war, nur als Benetton Pullover. Mareice Kaiser wuchs in einer Arbeitendenfamilie auf. In der Familie, in der Eltern Arbeiter*innen sind: ihr Vater, gelehrter Koch, arbeitete die meiste Zeit als Lkw-Fahrer und ihre Mutter holte nach der jahrelangen Care-Arbeit eine Ausbildung als Altenpflegerin nach. Von ihren Eltern lernte sie, dass ein Mensch dann etwas wert ist, wenn er hart arbeiten kann. Geld bedeutet für ihre Eltern, vor allem, Sicherheit. Diese Bedeutung teilt die Autorin mit ihren Eltern nicht: „Meine Sicherheit ist Wissen. Meine Sicherheit ist Bildung. Meine Sicherheit ist Freiheit. Im besten Fall: Entscheidungsfreiheit“. Um diese Entscheidungsfreiheit zu besitzen, darf die soziale Herkunft eines Menschen nicht über dessen Leben bestimmen. So wie Mareice Kaisers soziale Verhältnisse darüber entschieden haben, ob sie studieren kann oder nicht, ob sie Bücher liest oder nicht, ob sie Markenklamotten trägt oder nicht.
Die Autorin macht in ihrem Buch ersichtlich, dass nicht nur Geld per se das Sagen hat. Es ist auch das Kapital, welches nur privilegierte Menschen besitzen können. Kapital sei deutlich mehr als Geld, sagt sie. Es sind richtige Codes und ein bestimmter Habitus. Es ist „Sprache, Bildung, Kleidung – und die Möglichkeit, das alles an die Umgebung anzupassen“. Kapital definiert die Autorin auch als eine unbewusste Selbstverständlichkeit, auf alles zugreifen und voraussetzen zu können, dass alle anderen Menschen dies auch tun. Kulturelle und soziale Teilhabe hängt jedoch auf direktem Weg von den finanziellen Möglichkeiten ab. Infolgedessen wird Kapital ungleich verteilt und erzeugt Klassen. Aus diesen Gründen ist Mareice Kaiser sehr auf die Zugänglichkeit ihres Buches bedacht und strebt eine bildungsunabhängige Verständlichkeit an. Sie befreit ihr Buch von jeglichen Voraussetzungen. Ihre Leser*innen müssen weder Marx noch Bourdieu gelesen haben, um ihr Buch zu verstehen. Sie müssen genauso wenig verstehen was cis oder Gender Pay Gap bedeutet, diese Begriffe werden von der Autorin im Buch erklärt. Auf eine subtile Art bringt die Autorin in diesem Zusammenhang auch die Notwendigkeit zum Umdenken vieler Narrative ans Licht: „von Armut betroffen sein“ statt „arm sein“; „finanziell schwach“ statt „sozial schwach“. Armut sei keine Selbstverschuldung oder einfach nur Pech, wie Mareice Kaiser betont.
Über Armut, Reichtum und ob das Geld an sich ein Problem darstellt oder doch die Verteilung davon, spricht Mareice Kaiser mit acht weiteren Menschen, unter anderem mit ihrem eigenen Vater. Diese Dialoge sind intim, ehrlich und absolut nicht selbstverständlich.
Die Beschreibungen von Armut und Reichtum stehen hier in einem starken Kontrast zueinander und werden durch eine durchdachte sprachliche Präzision besonders hervorgehoben. Armut hat in Mareice Kaisers Buch faltige kalte Hände, die jeden Tag Pfandflaschen sammeln, während sich Reichtum als ein beigefarbenes, warmes, nach frisch gebackenem Kuchen riechendes Heim präsentiert. Diese Zustände können Leser*innen durch die feinfühlige Schreibart der Autorin hautnah erleben. Und nach dem Erleben kommt Empathie, der das Wichtigste folgt: Reflexion.
Einer der Protagonist*innen des Buches ist Erwin Husel. Er ist eine Verkörperung der Altersarmut, die kein Einzelfall ist. Er kann seine Wohnung nicht heizen und geht mit einer Wärmflasche ins Bett. Seine Rente beträgt 802 Euro im Monat. Die größte Angst scheint bei ihm krank zu werden zu sein, denn dann fehlen ihm im Monat 100 Euro von den Pfandflaschen. Im Gegensatz dazu, winkt Sven Faltin Mareice Kaisers Frage, ob sie das Interview mit einer Maske führen wollen (mitten in der Pandemie) einfach ab. Sven Faltin ist ein „Selfmade“-Multi-Millionär und ein weiterer Protagonist ihres Buches. Für ihn scheint Armut in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein kleineres Problem zu sein: „Es gibt ja ein Absicherungsnetz“, sagt er. Realitätsfern ist außerdem seine Vorstellung über den sozialen Aufstieg, da es seiner Ansicht nach für alle möglich sei, aus eigener Kraft reich zu werden. Die Einführung des Grundeinkommens hält er für eine wirksame Maßnahme gegen die Armut. Millionenerbin Marlene Engelhorn, eine weitere Protagonistin dieses Buches, sieht im Grundeinkommen allerdings keinen Ausweg und hält Überreichtum für das zentrale Problem. Mit ihrer Organisation taxmenow setzt sie sich außerdem dafür ein, Vermögende zu besteuern: „Ich halte Überreichtum für etwas, das man sich als Gesellschaft nicht leisten kann. Es ist absurd und anti-demokratisch. Wenn wir Armut abschaffen wollen, müssen wir Überreichtum abschaffen“.
Mareice Kaiser führt in diesem Buch nicht nur einen klassenübergreifenden Dialog. Sie liest Studien und Bücher, spricht mit Kultur- und Sozialwissenschaftler*innen, Autor*innen, Transformations- und Armutsforscher*innen. Sie vergleicht Statistiken, sammelt Meinungen, und checkt Fakten. Mit dieser enorm wichtigen Arbeit offenbart sie nicht nur strukturelle, soziale und politische Missstände, sie bringt das Konzept des Geldes näher, macht es nachvollziehbarer sowie spürbarer. Die Autorin macht klar, dass nicht das Geld an sich, sondern dessen ungerechte Verteilung problematisch ist. Umverteilung von Vermögen durch eine Rückkehr zur Vermögenssteuer, Verbesserung der Sozialpolitik und letztlich Abschaffung des Kapitalismus sind die Maßnahmen, die Mareice Kaisers Meinung nach unentbehrlich für eine bessere Zukunft sind. Für eine Zukunft, an der alle teilhaben können.
Besonders starke Kritik äußert sie gegenüber der aktuellen Sozialpolitik und weist auf deren fehlende Übereinstimmung mit aktuellen Lebenswirklichkeiten: „Deutschlands Sozialsystem scheint aus der Zeit gefallen zu sein“, unterstreicht sie. Hartz-IV gewährleistet keine Grundsicherung und entspricht schon gar nicht der Würde des Menschen, wie es im Sozialgesetzbuch steht. Die Autorin betont, dass kleine Pflaster nicht mehr ausreichend seien: „Was wir brauchen, sind ganz sicher keine Überstunden. Wir brauchen eine Zeitenwende, die ihren Namen verdient hat. Eine sozialpolitische Zeitenwende. Eine Zeitenwende für soziale Gerechtigkeit“. Ob die Autorin damit den Wechsel von Hartz-IV zum Bürgergeld im Sinn hatte, lässt sich bezweifeln, auch wenn eine grundsätzliche Erhöhung des Regelsatzes die richtige Richtung einschlägt. Sozialpolitische Veränderungen, die wirklich etwas bewirken, sind im Kapitalismus nicht zu erwarten, deswegen darf Kapitalismus keine Option mehr sein. Ausbeutung von menschlichen sowie natürlichen Ressourcen darf auch keine Option mehr sein. Mareice Kaiser zitiert in diesem Zusammenhang Maja Göpel und sagt: „Die Transformation unserer Wirtschaftsform wird kommen – „by design or by disaster“. Und noch liege es an uns, ob wir diese Veränderung selbst gestalten, meint die Autorin.
Mareice Kaiser möchte diese Veränderung selbst gestalten. Dafür schreibt sie dieses lesenswerte und zum Handeln anregende Buch.
Mareice Kaiser: Wie viel. Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht.
Rowohlt Verlag: 2022, 195 Seiten, 17 Euro.
ISBN: 978-3-499-01027-9.
Von Anna Pashchenko
Beitrag erstellt am: 01.12.2022 um 12:37 Uhr
Letzte Änderung am: 01.12.2022 um 12:37 Uhr
Über Anna Pashchenko
... studiert Deutsche Sprache und Literatur sowie English Studies an der Universität zu Köln. Neben dem studentischen Alltag versucht sie ihre ersten Erfahrungen im Kulturjournalismus zu sammeln. Ihre Freizeit verbringt sie gerne mit einem Buch oder bei einer spannenden Ausstellung.