Wahlen in Chile

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Kommt der Wandel für die Vielen?

Am 19. Dezember 2021 haben die Menschen in Chile gewählt – eine linksgerichtete Koalition, angeleitet vom Studierendenführer Gabriel Boric, ging aus der Wahl als Sieger hervor. Dieser hat seinen rechtsextremen Rivalen José Antonio Kast mit einem Stimmenvorteil von über einer Million Stimmen im zweiten Wahldurchgang deutlich überholt, nachdem er im ersten knapp unterlag.

Wohlstand durch Privatisierung – aber für Wen?

Die Fragen, die sich in den politischen Verhältnissen des von sozialen Konflikten gebeutelten Landes ergeben, sind komplex. Sie verlangen aber dringend nach Antworten, denn Chile erlebt seit 2019 massive soziale Unruhen, die sich aus einem klaffenden Loch zwischen Arm und Reich ergeben. Der erste Impuls war jedoch eine Erhöhung der Metropreise in der Hauptstadt Santiago im Oktober 2019. Nach dieser sprang die Empörung auf andere Großstädte des Landes über und trieb alleine in der Hauptstadt zeitweise ca. 1,1 Millionen Menschen an einem Tag auf die Straßen.

Eine Vielzahl an Faktoren wirkt schon seit der „transición“, dem Übergang aus einer Militärdiktatur unter dem General Augusto Pinochet, auf das chilenische Volk ein und sorgt für massive soziale Ungerechtigkeit. Eben genannter Diktator, der das Land seit dem Militärputsch 1973 bis ins Jahr 1990 regierte und die Interessen seiner Elite mit Staatsterror durchsetzte, führte auch eine radikal-neoliberale Wirtschaftsform ein.

„Chile erlebt seit 2019 massive soziale Unruhen, die sich aus einem klaffenden Loch zwischen Arm und Reich ergeben.“

Die Folgen ebendieser zeichnen sich heute unter anderem in einem privatisierten Rentensystem ab, das primär den Reichen zugutekommt. Die AFP‘s (Administradoras de Fondos de Pensiones), werden auf Deutsch Rentenfonds genannt. Das Fondsystem komplett zu erklären, würde einen eigenen Artikel benötigen. Dennoch zeigt sich heruntergebrochen, dass die Mindestrente der Arbeiterklasse kaum zum Leben reicht. Die Arbeiterschaft erwirtschaftet im Durchschnitt nie so viel, dass sie mehr als den Mindestbeitrag (und oft nicht einmal diesen) bezahlen kann. Mindestrente bekommen aber nur jene, die mehr als zwanzig Jahre in einen Fond eingezahlt haben. Diejenigen, die sich das nicht leisten können, bekommen eine Sozialhilfe, die noch geringer ausfällt.

Auch Versuche, dieses System im Jahr 2008 zu reformieren, zahlten sich nicht aus, denn die materielle Ungleichheit hat sich seitdem nur noch verschlimmert. Die sogenannte Mittelschicht ist nach unten abgerutscht, die Inflationsrate steigt nicht erst durch die Corona-Krise stetig, wird durch diese aber verstärkt.

Chile und Sozialismus?

Gabriel Boric, nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse im Präsidentenpalast. Foto: Gobierno de Chile / Wikimedia / CC BY 3.0 CL.

Wichtig zu erwähnen ist hierbei, dass mit Boric nun erstmals seit der Wahl Salvador Allendes im Jahr 1970 ein sozialistisch orientierter Politiker die Stichwahl gewonnen hat. Zweifellos ist der Wahlsieg eine große Chance für linke Kräfte in Chile und außerdem ein Beispiel dafür, dass die chilenische Linke gut daran getan hat, die Proteste zu unterstützen und mit ihrer Kritik zu versehen; Nicht zuletzt, weil die Kritik der Protestierenden nah an der von links einzuordnen ist.

Um eine Wiederwahl neoliberaler, rechter und konservativer Kräfte zu verhindern, haben sich im zweiten Wahldurchgang also nahezu alle großen Parteien jenseits des rechten Spektrums zusammengetan, um Boric in der Stichwahl zu unterstützen. Von Christdemokrat*innen bis hin zur kommunistischen Partei konzentrierten sie ihre Kräfte darauf, die Wiederwahl eines Pinochet-Bewunderers zu verhindern und eine konkrete Alternative zu bieten. Ebendiese soll aus einer Reform diverser Institutionen bestehen, aus einer neuen, sozialeren Verfassung (die aktuelle stammt noch aus der Diktaturperiode) und einem Versuch, die materiellen Verhältnisse zugunsten der Arbeiterschicht neu zu ordnen.

Dennoch werden auch innerhalb der Protestbewegung Zweifel an Boric laut, der selbst in den vergangenen Jahren mit den Menschen auf der Straße war. Es bestehe, so eine vom spanischen Rundfunk Interviewte (siehe Infobox), die Furcht, dass er sich mit dem Amtsantritt bereits dermaßen in seinen Ansichten gemäßigt haben soll, dass er eben nicht mehr die tatsächlichen Interessen der chilenischen Arbeiterklasse vertrete.

So habe er auf Protestkundgebungen noch gefordert, das private Rentensystem abzuschaffen und durch eines zu ersetzen, welches der breiten Masse zugutekommt, anstatt Denen, die finanziell bereits abgesichert sind. Kurz darauf soll er jedoch in einer Fernsehdebatte Zugeständnisse gemacht haben, es schlicht wieder reformieren zu wollen, was zwar ein Schritt in die richtige Richtung wäre, jedoch keine wirkliche oder nachhaltige Lösung des Problems darstellen kann.

Ein Vorwurf, den man Allende nicht machen kann. Dieser führte in kurzer Zeit sehr konkrete Wirtschaftsreformen ein und wurde der damaligen Oligarchie damit ein Dorn im Auge. Er setzte auf Umverteilung von oben nach unten und auf eine zentralisierte Produktion nach den Bedürfnissen des Volkes.

Die Diktatur und ihre Kinder

Dass der massiveren Ausbeutung in einem neoliberalen System bestimmte Strukturen zuzuschreiben sind, zeigt sich auch in den Vereinigten Staaten, welche jahrzehntelang als Vorbild für die Wirtschaftspolitik Chiles galten. Die Person, welche die theoretische Grundlage für die Wirtschaftsreform in der Pinochet-Ära gebildet hat, ist José Piñera. Dieser studierte unter anderem in den Vereinigten Staaten und wird auch zu den Chicago Boys gezählt, welche sich aus einer Gruppe chilenischer Ökonomen zusammensetzten. Die Chicago Boys waren streng wirtschaftsliberalen Ideen zugetan. Dass José Piñera, damals schon steinreich, an Privatisierungen in bis dahin unbekanntem Ausmaß interessiert war, dürfte also kaum überraschen. Wie hoch sollten also die Chancen stehen, dass er als eine Person, die während einer Diktatur zu wirtschaftlicher und politischer Macht gelangte, an sozialer Gerechtigkeit interessiert gewesen sei?

„Es ist nahezu eine einmalige Chance, bei der aber auch vieles schief gehen kann.“

Was aber gerne übersehen wird: Die Erben dieser wirtschaftlichen Strukturen sind in Chile, wie auch in den Vereinigten Staaten, noch heute an der Macht. So ist zum Beispiel der Bruder von José, der Milliardär Sebastián Piñera, der Vorgänger des neu gewählten Präsidenten. Unter dessen Kabinett, aber auch unter den vorherigen, verlor das chilenische Volk das Vertrauen in die Regierung und ihre Institutionen. Die Gewaltexzesse der staatlichen Polizei Carabineros während der Demonstrationen von 2019 bis 2021 wurden von Sebastián Piñera verteidigt und als notwendig deklariert, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.

Aufgaben und Chancen

Gabriel Boric steht also vor einem ganzen Haufen an Herausforderungen. Es steht die Gestaltung einer neuen Verfassung an, an der er maßgeblich beteiligt werden soll. Er muss im Inneren schlichten und kompromissfähig bleiben, gleichzeitig aber die Balance finden, um die Interessen seiner Anhänger*innen nicht zu übergehen.

Außerdem muss er, um die Wahlversprechen einzuhalten, den Grundstein für eine sozialere Wirtschaft legen und dabei den Reichen des Landes die Stirn bieten. Zuletzt gilt es auch, den Produktionssektor nachhaltiger zu gestalten und der indigenen Bevölkerung im Süden wieder Land und Rechte zuzugestehen, da dort die Umwelt zuerst privatisiert und danach von großen, oft ausländischen Unternehmen für Profite zerstört wird.

Schlussendlich ist die Wahl Borics eine große Chance für Chiles Linke und für eine progressivere Politik der nächsten Jahre. Es ist nahezu eine einmalige Chance, bei der aber auch vieles schief gehen kann. Die Frage, die sich stellt, ist: Sind die Werkzeuge, die dem Präsidenten zur Verfügung stehen, ausreichend, um sich gegen die wirklich Reichen und Mächtigen des Landes zu behaupten? Das wird sich in den nächsten Jahren zeigen.

Interview mit dem spanischen Rundfunk: https://www.rtve.es/noticias/20211219/chile-dos-modelos-economicos-sociales-para-futuro/2240841.shtml

Von Dominik Ohletz

Beitrag erstellt am: 07.08.2022 um 10:00 Uhr
Letzte Änderung am: 07.08.2022 um 10:00 Uhr

… studiert Romanistik – Spanisch und Afrikanistik an der Universität zu Köln und hat ein reges Interesse an sozialwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Texten und Autor*innen. Er selbst beschäftigt sich gerne mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen.