Seit den letzten Jahren hat sich die Klimaprotestbewegung lokal und global neu formiert. Sei es 2018 durch das Aufkommen von Fridays for Future oder auch 2015 in Deutschland durch die Gründung des Aktionsbündnisses Ende Gelände. Gemeinsam haben diese Bewegungen, dass sie sich für ein sofortiges Handeln gegen die Klimakrise einsetzen. So fordern Fridays for Future mittels wöchentlicher Schulstreiks die Politik dazu auf, sich an die im Pariser Abkommen formulierten Ziele und die Erkenntnisse der Wissenschaft zu halten. Ende Gelände setzt hingegen auf radikalere Aktionen des zivilen Ungehorsams, indem beispielsweise jährliche Blockaden und Besetzungen in Kohleabbaugebieten organisiert werden. Dies beinhaltet auch die Bereitschaft, sogenannte Polizeiketten zu durchfließen, was nicht selten zu massenhaften Festnahmen führt. Ende Gelände begreift die Klimakrise – anders als Fridays for Future – als in das kapitalistische System eingebettet und möchte einen konkreten Systemwandel erzielen.
Es stellt sich also zunehmend die Frage, wie radikal Klimaprotest ist und sein darf. Der Begriff radikal (lat. radicalis) bedeutet „an die Wurzel gehend“. Häufig wird dies entweder als „gründlich“ oder „bis zum Äußersten gehend“ aber auch als „rücksichtslos, extrem eingestellt oder kompromisslos“ verstanden. Die genaue Bedeutung bleibt also in gewisser Weise offen und ist tendenziös.
Denn nicht selten instrumentalisieren Parteien wie die AfD (Alternative für Deutschland) die Debatte um die Radikalisierung von Klimaprotestbewegungen. So bezeichnet die AfD-Landtagsfraktion in Nordrhein Westfalen (NRW) Aktivist*innen im Hambacher Forst als „Öko-Hooligans“. Die Bild schreibt von einer „Radikalität der Haltung“ der Fridays for Future Aktivist*innen, sowie dem Irrglauben an die eigene „moralische Unfehlbarkeit“. Offensichtlich werden bereits die wöchentlichen Schulstreiks von einigen als enorme Provokation oder sogar Gefahr dargestellt. Auch die CDU(Christlich Demokratische Union)-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung spricht von Radikalisierungstendenzen innerhalb der Klimaprotestbewegung und beschreibt eine Entstehung von Mischszenen.
Was die beiden Bewegungen gemeinsam haben, ist, dass sie eine Form des zivilen Ungehorsams ausüben, um gegen die Klimakrise vorzugehen. Aber was genau ist ein ziviler Ungehorsam? Der Begriff steht in der Tradition der berühmten Proteste von Vertreter*innen wie Rosa Parks, Mahatma Ghandi oder Martin Luther King. Die Diskussion um die philosophische Frage nach dem Gehorsam gegenüber staatlicher Autorität reicht aber zurück bis in die Antike. Nach Jürgen Habermas‘ Definition ist der zivile Ungehorsam ein Bruch rechtlicher Normen, der immer moralisch begründet sein muss. Diese Regelbrüche haben dabei einen symbolischen Charakter und werden durch gewaltfreie Mittel vollzogen.
Gerade die Frage der Gewaltfreiheit bleibt jedoch ambivalent. Sind beispielsweise Sitzblockaden bereits eine Form der Gewalt? Und was ist mit Besetzungen von Wäldern oder Kohlebaggern in einem Tagebau? Ist dies eine Form legitimen Protests oder doch stumpfe Gewaltanwendung? Offensichtlich gibt es keine feste Definition des zivilen Ungehorsams. Doch grundsätzlich gilt dieser als wichtiges Instrument der politischen Partizipation. Bereits Hannah Arendt kennzeichnet, dass so auf den öffentlichen und politischen Charakter von Problemen verwiesen wird. Auf die Klimakrise übertragen bedeutet dies, die Problematik nicht mehr zu privatisieren, indem sie lediglich auf den individuellen Konsum heruntergebrochen wird, sondern mittels des zivilen Ungehorsams auf die systemisch-politische Ebene zu bringen und damit auf ihren öffentlichen Charakter hinzuweisen.
Sowohl Fridays for Future als auch Ende Gelände brechen rechtliche Normen also aus einem deutlich moralisch begründeten Anliegen: Das Aufhalten der Zerstörung unseres Planeten. Wenngleich die Bewegungen sich in ihren Herangehensweisen deutlich unterscheiden, haben sie also gemeinsame Anliegen, die Solidarisierungsprozesse untereinander nicht unbegründet erscheinen lassen. Trotzdem gilt es zu verdeutlichen, dass Fridays for Future nicht auf einer systemkritischen Ebene argumentiert. Deshalb sei laut dem Soziologen Alexander Ruser Fridays for Future auch ein Beispiel für eine „radikale Konformität“. Die Klimakrise würde hier viel mehr als Generationenkonflikt verstanden werden und es würde keine radikalen Lösungsansätze geben. Gleichzeitig seien Ende Geländes Forderungen im Vergleich als ‚an die Wurzel gehend‘ zu beschreiben.
„Während die einen radikalere Aktionen begrüßen, möchten andere sich von dieser Radikalität distanzieren.“
Ebenfalls erwähnenswert ist, dass der Verfassungsschutz Ende Gelände beobachtet und für linksextremistisch beeinflusst hält. Der Bericht warnt vor „schleichende[n] Grenzverschiebungen“ und davor, dass die Bewegung „[…] Gewaltanwendung mindestens billigend in Kauf nimmt“. Es heißt, die Bewegung inszeniere den Klimaschutz nur zur Außendarstellung und die eigentlichen Ziele würden verschleiert werden (Verfassungsschutzbericht 2019).
Ende Gelände lehnt diese Darstellung und die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes als solche ab und hat sogar eine ganze Podcast-Folge zu diesem Thema veröffentlicht. Laut des Bündnisses sei der Bericht ein „Angriff auf die ganze Bewegung für Klimagerechtigkeit“. Da das Bündnis sowohl digital als auch analog die eigene Agenda offenlegt, Parolen wie „System Change not Climate Change“ und ebenfalls ganze Podcast-Folgen zu Themen wie Gewalt und zivilem Ungehorsam veröffentlicht, stellt sich die Frage, weshalb von einer „Verschleierung“ die Rede ist. Auch die Zusammenarbeit mit linken Politgruppen legt die Bewegung in ihrer Selbstdefinition offen. Zudem wird die vom Verfassungsschutz getätigte Darstellung der Gewaltanwendung nicht in einen näheren Kontext gebracht und bleibt damit ebenfalls fragwürdig. Auch Medienberichte wie die der taz schreiben hier von einer „willkürliche[n] Einschätzung“ des Verfassungsschutzes.
Seit einiger Zeit findet außerdem wegen der steigenden Frustration über das ausbleibende Reagieren der Politik innerhalb Fridays for Future eine Spaltung statt. Während die einen radikalere Aktionen begrüßen, möchten andere sich von dieser Radikalität distanzieren und weiter auf die Unterstützung einer breiten Masse bauen. Ob sich daraus eine Bildung neuer Gruppen oder der Zulauf zu Bewegungen wie Extinction Rebellion oder Ende Gelände ergibt, ist noch offen. Einzelne Solidarisierungsbekundungen und miteinander verbundene Aktionen haben aber bereits stattgefunden. Trotzdem möchten viele Aktivist*innen innerhalb Fridays for Future nicht von ihrem ursprünglichen Kurs abkommen. Die Streitfrage, ob eine Bewegung mittels radikaler Aktion oder doch eher durch „radikale Konformität“ und die Konzentration auf ihre Popularität Erfolge erzielen kann, bestimmt also auch hier immer mehr den Diskurs.
Die Debatte um radikale Praxis und zivilen Ungehorsam ist somit stark vom jeweiligen Framing – also kollektive Deutungsmuster, die dazu dienen komplexe Sachverhalte zu selektieren und zu strukturieren – abhängig. So gehen die Meinungen hier sowohl innerhalb als auch außerhalb der Bewegungen auseinander. Bild-Schlagzeilen folgen hier völlig anderen Paradigmen als beispielsweise die der taz. Auch verschiedene wissenschaftliche Quellen legen die Thematik vollkommen unterschiedlich aus. Die Perspektive des Verfassungsschutzes wirft ein bedrohliches Licht auf Ende Gelände, dass das Bild von „Öko-Hooligans“ unterfüttern kann. Ist bereits die antikapitalistische Ausrichtung einer Bewegung ein Beweis für staatsfeindliche Tendenzen? So lässt es jedenfalls der Verfassungsschutzbericht vermuten und auch die Konrad-Adenauer-Stiftung untermauert diese Darstellung. Ist es in diesem Zusammenhang nicht viel eher Zeit für einen Paradigmenwechsel? Sollte Radikalität im Klimaprotest populärer werden oder bedeutet dies eine Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung?
„Ist bereits die antikapitalistische Ausrichtung einer Bewegung ein Beweis für staatsfeindliche Tendenzen?“Vielleicht lenkt eine ideologisch so aufgeladene Diskussion auch vom Wesentlichen ab: der Dramatik der Klimakrise mit all ihren Folgen und dem daraus resultierenden Handlungsbedarf. Belassen wir es abschließend bei einem Verweis Arendts auf Kant: „Kein Mensch hat […] das Recht zu gehorchen“.
Der Begriff ziviler Ungehorsam stammt aus Henry David Thoreus Essay „Civil Disobedience“ in dem er erklärt warum er aus Protest gegen den Krieg gegen Mexico und der Sklavenhaltung in den USA keine Steuern mehr bezahlte.
Von Hannah Esser
Beitrag erstellt am: 29.07.2022 um 09:00 Uhr
Letzte Änderung am: 29.07.2022 um 09:00 Uhr
Über Hannah Esser
... studiert Medienkulturwissenschaft und Ethnologie. Natürlich liest sie gerne, aber manchmal wird sie dem während des Semesters in ihrer Freizeit dann doch überdrüssig. Stattdessen macht sie dann hin und wieder – mehr oder weniger freiwillig – Sport. Aber vor allem beschäftigt sie sich mit Kunst, Film und Musik. Die Hauptrolle in ihrem Leben spielen eindeutig ihre Freundschaften. Ein kleiner, aber nicht unerheblicher Teil ist außerdem die Arbeit in der Gastro, mit der sie eine Art Hass-Liebe verbindet. Neben kleinen Film- oder Theaterkritiken, mit denen sie zur Schulzeit begann, schreibt sie am liebsten über Gesellschaft oder Popkultur.