Fahre ich in Köln mit der Straßenbahn habe ich den Eindruck, in einer weltoffenen, sicheren Gesellschaft zu leben. Ich kann mich für oder gegen Hafermilch entscheiden, wie persönlich wichtig mir das Tierwohl ist und ob meine Kleidung Secondhand oder doch lieber brandneu sein soll. Am Neumarkt läuft Werbung für eine KI, auf der Tafel umarmt sich lächelnd ein queeres Pärchen. Bei Germanys Next Top Model hat jüngst ein Transgender-Model gewonnen, wie mir Social Media beim Warten verrät.
Fahre ich dagegen durch meine Heimat, sieht es ganz anders aus. Hier machen keine Werbetafeln Versprechungen vom großen Glück. Stattdessen schlagen mir winterliche Felder entgegen, wenn ich mit dem Rad die Landstraße hinunter strampele, rüber ins nächste Dorf. Ich will dort eine Freundin besuchen. Eine Freundin, die eine persönlichere Geschichte zu erzählen hat als Werbung oder Soziale Netzwerke. Denn meine Freundin Celina ist eine der wenigen Transfrauen im Dorf.
Celina ist 28, trägt gerne Schwarz und macht gerade ein Stimmtraining. Sie hat im Bachelor Kunstgeschichte und Germanistik studiert, dann aber abbrechen müssen, um ihre neue Identität in ihr Leben zu integrieren. Dafür ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt: Um sie selbst zu werden und näher an ihrer Familie zu sein. Momentan baut sie sich ein Portfolio als freischaffende Künstlerin auf. Das Titelbild des Beitrags stammt von ihr.
Wir spazieren über die Dorfstraße, Richtung Wald. Ich frage Celina, wie sie sich fühlt, wenn sie alleine hier entlangläuft, um einzukaufen.
„Relativ entspannt, denn es sind sowieso nur sehr wenig Menschen unterwegs. Ich denke nicht immer an die negativen Sachen. Natürlich ist es anders, wenn man mit Unwissenheit oder Transphobie direkt konfrontiert wird. Es gibt einiges an Negativerfahrungen, die ich schon gemacht habe: seltsame Blicke, Kommentare wie „Ist das nun Mann oder Frau?“, Sexismus wie Catcalling. [Anmerkung der Redaktion: Anzügliches Rufen oder Pfeifen auf offener Straße wird Catcalling genannt und stellt eine verbal-sexuelle Belästigung dar.] Ich fühle mich dann jedes Mal sehr unsicher in meiner Haut, falle in ein Schutzverhalten.“
Wir kommen an einem älteren Pärchen vorbei. Celina grüßt, sie grüßen zurück. „Das macht man hier so“, sagt sie und lacht. Ob sie denkt, dass Unaufgeklärtheit ein Generationending ist, frage ich sie. Sie überlegt kurz.
„Das ist eine gute Frage. Bei älteren Menschen fällt das definitiv stärker auf, aber es ist, glaube ich, auch einfach die Beschäftigung mit dem Thema. Ein*e Bauarbeiter*in wird vermutlich seltener damit konfrontiert als jemand, der an der Uni täglich über Genderprobleme nachdenkt.“
Wir erreichen den Waldrand, an einigen Stellen liegt sogar noch Schnee. In Köln dagegen ist das Wenige sofort geschmolzen, es ist zu warm. Ich überlege, wie oft man hier im Dorf – über eine Stunde Odyssee mit Bus und Bahn von der nächsten Hochschule entfernt – wohl auf Studierende treffen kann, die über Gender Studies philosophieren. Nicht sehr oft außerhalb der Semesterferien, vermutlich. Ich frage Celina, ob sie einen Unterschied zwischen Stadt und Land feststellen kann.
„Da ist definitiv ein Unterschied zwischen Dorf und Stadt. Ich fühle mich in der Stadt auch sicherer, man ignoriert mich, ich bin nur eine Person von Vielen. In kleineren Ortschaften ziehe ich wesentlich stärker die Blicke auf mich, was aber auch an meinem Stil liegen könnte – ich trage immer sehr viel Schwarz. Und meine Stimme war vor Kurzem auch noch um einiges dunkler. Und sowas wie Catcalling ist ein generelles Problem, was ja auch andere Frauen betrifft.“
Dass sie wieder auf das Catcalling zurückkommt, gibt mir zu denken. Mir persönlich ist das noch nie passiert, aber ich bin vermutlich auch nicht wirklich das „Beuteschema“. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass mir so eine Situation Angst machen würde. Während wir den stillen Waldweg hinuntergehen, hake ich noch einmal nach: Ist sie schon einmal so in Bedrängnis geraten, dass sie sich schlecht gefühlt hat oder sogar Angst haben musste? Celina zögert.
„Zweimal. Bei der ersten Situation hat eine fremde Person unerlaubter Weise ein Foto von mir gemacht. Ich habe mich verwundbar gefühlt, denn wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, beobachtet zu werden, hätte ich einfach nichts mitgekriegt. Nachdem ich endlich realisiert hatte, was passiert ist – und auch die männliche Person bemerkt hat, dass ich sie in flagranti erwischt hatte – bin ich wirklich sauer geworden. Ich habe ihn dann damit konfrontiert, habe versucht, ihm die Situation unangenehm zu machen. Von den anderen Passanten hat sich niemand groß um uns gekümmert. Hätte ich damals gewusst, dass das eine Straftat ist – unerlaubtes Fotografieren – wäre ich sofort zur Polizei gegangen, denn genau so etwas ist es, dass es weiblichen Personen in unserer Gesellschaft schwerer macht. Heute würde ich für andere Frauen die Straßen sicherer machen wollen.“
Viele ältere Damen zum Beispiel sind super nett und wünschen einem alles erdenklich Gute für den Weg.“
Über die zweite Situation schweigt Celina, mit gutem Recht. Nach Eigenaussage war sie zu heftig, als dass sie darüber sprechen möchte. Auch ich verstumme für eine Weile. Wir kommen an einer Futterstelle für Wildtiere vorbei. Celina muss mich erst auf die Äpfel und Karotten aufmerksam machen, die jemand – Ein Spazierender? Ein*e Förster*in? – in den toten Baumstumpf gesteckt hat. Ihre Augen leuchten, als sie nach Spuren in der feuchten Erde Ausschau hält.
Der Moment ist schön. In der Stadt wäre so etwas nicht möglich, dass natürlichste sind hier die Kaninchen am Studierendenwohnheim. Aber die sieht man im Winter auch eher selten. Ich will die dunkle Wolke wegschieben, die sich über unser Gespräch gelegt hat: Es muss doch auch positive Momente geben, es kann doch nicht nur alles negativ sein?
„Definitiv. Es gibt auch Menschen, die Respekt davor haben, welche Schritte man geht und dass man das so offen zeigt. Insbesondere auch ältere Menschen, die aufgeschlossen reagieren. Viele ältere Damen zum Beispiel sind super nett und wünschen einem alles erdenklich Gute für den Weg.“
Hat sie da speziell Personen im Kopf?
„Mein Hausarzt ist extrem unterstützend gewesen. Ich konnte sehr offen mit ihm über das Thema sprechen. Und meine Logopädin ist eine wirklich liebe Frau, die mir sehr weiterhilft. Auch die Ämter gehen damit sehr entspannt um. Da steht zwar immer noch mein alter Name und mein altes Geschlecht, aber ich habe damit weniger Probleme. Es ist halt mehr nervig, wenn da `Herr´ steht – ich schreibe dann immer meinen neuen, inoffiziellen Namen daneben. Ansonsten habe ich recht positive Erfahrungen gemacht.“
Das klingt doch wieder ganz anders als die Aussagen am Anfang. Ich bin insgeheim froh, dass sich Celinas Erfahrungen relativieren lassen. Oder gibt es sogar mehr Vorteile auf dem Dorf? Wir kommen an einem zugefrorenen See vorbei, dem eingezäunten Gewässer des örtlichen Anglervereins. Mit dem rostigen Stacheldraht oben am Maschendrahtzaun wirkt es auf mich beinahe postapokalyptisch. Celina gefällt der Gedanke. „Wie bei Fallout.“ Nach dem Untergang der Zivilisation ist es bestimmt besser, außerhalb der Stadt sein Lager aufzuschlagen. Aber wie sieht das jetzt aus? Ich frage Celina nach ihrer persönlichen Einschätzung: Sie hat in beiden Welten gelebt. Was ist nun wirklich besser, das Dorf oder die Stadt?
„Ich denke, aus der Sicht als Transperson kann es definitiv Vorteile haben, auf dem Land zu leben. Es gibt zum Beispiel weniger Leute, die überhaupt gucken können. Natürlich wird getratscht, aber das wird hier über jede Person. Egal, wie und wer du bist, du wirst immer irgendwann das Gesprächsthema sein. Eigentlich sind es aber andere Faktoren, die für mich eine wesentlich wichtigere Rolle spielen, wie Angebundenheit, Versorgung, Ärzte… Nachteile sind eben, dass man mehr durch die Gegend fahren muss. Mittlerweile habe ich mich an die Wegstrecken mit der Bahn gewöhnt, meine Klinik ist auch gar nicht so schlecht zu erreichen, ich muss in der Stadt von der Station aus nur rund 2 Kilometer zu Fuß gehen.“
Zwei Kilometer sind wir jetzt bestimmt auch schon gelaufen. Inzwischen hat der Waldweg einen Bogen geschlagen. Wir kommen wieder an der Dorfstraße raus, in der Ferne sieht man schon die Hausdächer leuchten. Unser Spaziergang neigt sich einem Ende zu – das ist gut, denn der Wind ist wirklich kalt geworden. Eine letzte Frage liegt mir allerdings noch auf den Lippen: Was erhofft Celina sich für die Zukunft?
„Ich würde mir einerseits wünschen, dass Kinder schon weitaus mehr aufgeklärt werden zu dem Thema – nicht nur, um Transpersonen vor blöden Fragen zu schützen, sondern auch, um ihnen zu helfen, falls sie selber transsexuell sein sollten. Zum anderen, dass Ärzte sich mehr selbst hinterfragen und offener werden, dass Transsexualität kein Makel ist, der erstmal ausgetestet werden muss. Und das Catcalling soll bitte aufhören!“
Später, auf dem Heimweg, lasse ich unser Gespräch nochmal Revue passieren. Irgendwie ist unsere Gesellschaft noch lange nicht so toll, wie es medial manchmal suggerieren wird. Klar, wir dürfen Erfolge feiern: Seit diesem Jahr wird Transsexualität nicht mehr als psychische Krankheit bei der WHO geführt. Trotzdem gibt es immer noch eine Menge Aufklärungsbedarf. Auf dem Dorf – aber genauso auch in der Stadt. Da sind immer noch Fälle von Ausgrenzung, die es zu bekämpfen gilt, wie der Fall der Lehrerin Esther Lau, über den die taz am 26. Januar 2022 berichtete – fast einen Monat nach unserem Spaziergang.
Gleichzeitig ist nicht alles schlecht. Wenn wir heute gemeinsam daran arbeiten, können wir möglicherweise morgen gemeinsam in einer besseren Welt leben. Egal wie groß unser Wohnort ist. Oder wo. Ein Gedanke, den wir dringend mitnehmen sollten.
Von Friederieke Butzheinen
Beitrag erstellt am: 22.07.2022 um 08:00 Uhr
Letzte Änderung am: 22.07.2022 um 08:00 Uhr