Barbara Köhler sieht den Fluss vor lauter Warten

In Gedenken: Es ist das letzte veröffentlichte Werk der 2021 verstorbenen Lyrikerin. Foto: Edition Korrespondenzen.

Ich stehe am Rhein in Mülheim, lausche den Klängen des Flusses, begegne Menschen, höre wie sie reden, miteinander, mit mir, vergesse Raum und Zeit; bin still, gleichzeitig laut. Die Schiffe, die an mir vorbeifahren, faszinieren mich. Suche nach Worten. Versuche Barbara Köhlers Werk 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss (2017) nachzuspüren.

Eigentlich sollte Barbara Köhler bekannter sein, als sie es ohnehin schon ist. Doch sie macht es ihren Leser*innen nicht leicht. Wer einen Text von ihr in die Hand nimmt, darf keine Erzählung erwarten, die einen wohlig umhüllt und durch die Seiten gleiten lässt. Köhlers-Texte liest man wach, oder man liest sie gar nicht. Ihre Sprache ist zersplittert und zerpunktet. „Wiji hebben gewacht. Wakker en moe, müde und wach. Wir haben Zeit zusammen verbracht, wohin? Waarheen? Ou or where to?“ (siehe S.9). So klingt das, wenn Barbara Köhler schreibt. Leser*innen haben das Gefühl, den Ort, den Text, die Bilder und die Worte nicht fassen zu können. Sie entwirft einen Wort-Raum zum Innehalten. Durch die wenigen Zeilen und die Zwischenüberschriften scheinen die Worte zuerst fassbar. Aber der erste Eindruck täuscht, auch der zweite oder dritte. Ihr Werk spielt mit verschiedenen Medien, Formen und Perspektiven und ist permanent herausfordernd. Sie nähert sich einem Ort auf immer wieder neuen Wegen, beschäftigt sie sich mit den geheimnisvollen Korrespondenzen von Landschaft und Sprache und erfasst das Verhältnis von Mensch und Landschaft in einer ganz besonderen entschleunigten Sprache. Sie schafft es, in ihren Werken mit allen Konventionen zu brechen, und trotzdem die erstaunliche Klarheit und Konkretheit von Sprache herauszuarbeiten.

Verbundenheit versus Entfremdung

Der Titel 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss erinnert an Barbara Köhlers Werk 36 Ansichten des Berges Gorwetsch aus dem Jahr 2013. In beiden Werken nutzt die Autorin Neunzeiler, gespickt mit Worterscheinungen, die sie dreisprachig variiert und zugleich assoziativ weiterführt. Köhler macht bis zum Schluss nicht eindeutig, worum es geht. Und genau das ist so beeindruckend. Manchmal zeigt die gebürtige Ruhrpottlerin eine Verbundenheit, dann eine Entfremdung zu dem Ort, dem Kunstwerk, der Sprache und dem Fluss Emscher auf. Sie schlüpft in unterschiedliche Rollen: Einmal ist sie Barbara Köhler, die von dem Tod ihres Vaters erzählt, dann ist sie die Naturhistorikerin oder Geologin, die über die Brache berichtet; die ganze Zeit über ist sie der Flusswart und eine absolute Textkünstlerin, die durch Zeiten und Räume reist.

Ein crossmediales Kunstwerk

Ihre Texte sind etwas Mehrdimensionales: ein selbstständiges Objekt, etwas Visuelles, eine skulptural gedachte Sprache. Wir, Leser*innen, müssen uns den Ort eigenständig erschließen. Mit Naturbildern, Sprachrhetorik und Geometrie regt Köhler unser Vorstellungsvermögen an. Ihr Werk schreit förmlich danach, gelesen und gehört zu werden. Es tritt in Erscheinung als ein crossmediales Kunstwerk – eine spannende Mischung aus Sprachrhythmus, sinnlicher Erfahrung und Naturphilosophie, das für manch einen bei dem ersten Lesen schwer zu begreifen seien mag, aber unweigerlich zum Weiterlesen anregt.

Barbara Köhler, 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss, 2017.
Edition Korrespondenzen, 96, 18,00 Euro.
ISBN-Nummer: 978-3902951281.

Von Ronja Afflerbach

Beitrag erstellt am: 21.06.2022 um 09:00 Uhr
Letzte Änderung am: 21.06.2022 um 09:00 Uhr