Er kommt von hinten, ich spüre es ganz genau. In den letzten anderthalb Jahren haben sich meine Sinne geschärft. Ich merke es, wenn sich mir jemand nähert und dabei die obligatorischen 1,5 Meter Sicherheitsabstand nicht einhält. Ich wirble auf dem Absatz herum, möchte diesem Kerl die Leviten lesen – und halte inne. Verdammtes Hirn! Du bist feiern, du bist im Club, entspann dich! Du bist geimpft/genesen/getestet, so wie alle in diesem stickigen Raum.
Pandemie, Sicherheitsabstand, AHA-Regeln, Impfangebot, Bananenbrot: Versetzen wir uns zurück in den vergangenen Oktober 2021, das Leben mit einer Pandemie ist das „neue Normal“. Wir haben uns eingerichtet darin, wir setzen die Maske zum Einkaufen und in der Bahn auf, aber das erscheint wie der kümmerliche Überrest eines nun zahnlosen Monsters, das wir durch braves Impfen gezähmt haben. Die FDP (Freie Demokratische Partei) träumt von einem „Freedom Day“. Plötzlich fühlt sich alles leichter an. Zwar steht der Herbst vor der Tür, doch was soll uns schon passieren? Zur Not lassen wir uns ein drittes Mal impfen, wie in Israel, das scheint aber noch das äußerste Mittel.
Deshalb: Auf in die Kölner Nacht, die ich bislang nur aus Erzählungen kenne. Gemeinsam mit zwei Mädels, die wie ich als Wahlhelferinnen bei der Bundestagswahl dabei waren (noch so ein Gefühl von Neuanfang), stürze ich mich ins Getümmel.
„Die Erste steht auf dem Tisch, die Zweite hält diesen epischen Moment per Instagram-Story fest.“
Das Vorglühen erfüllt seinen Zweck: Getränke werden gemixt und die Musik immer lauter aufgedreht. Mit vorgeschrittener Stunde wechselt die Playlist, plötzlich läuft ein Zehner-Jahre-Best-of und wir kreischen zu Katy Perry und Taio Cruz. Die Erste steht auf dem Tisch, die Zweite hält diesen epischen Moment per Instagram-Story fest. Es ist, als hätte es diese Pause von anderthalb Jahren nicht gegeben, wir knüpfen da an, wo wir aufgehört haben. Wir sind albern und laut, fast hysterisch, kurz: Es ist so peinlich, wie es sich gehört. Möglich, dass unsere Ausgelassenheit befeuert wird durch das Gefühl, all die ausgefallenen Partys nachholen zu müssen.
Die Gespräche werden vermeintlich tiefgründiger, zumindest aber immer intimer. Wir kringeln uns vor Lachen, kriegen uns gar nicht mehr ein, kreischen „Oh mein Gott, ich auch!!“ und sind uns einig darüber, dass Männer auf den Mond geschossen gehören. Gut, dass mein Freund nicht dabei ist.
Wir entdecken immer mehr Gemeinsamkeiten und fühlen uns einander unglaublich nah, obwohl wir einander kaum kennen. Endlich, endlich spüren wir wieder diese betrunkene Verbundenheit, wie damals, vor Corona, als man sich in der Schlange vorm Club mit den Umstehenden anfreundete, nur um diese Fremden am nächsten Morgen peinlich berührt auf Instagram zu deabonnieren.
„Wir stolpern die Straße entlang, atmen die kühle Nachtluft ein und unsere Blicke werden wieder etwas klarer.“
Die Flaschen sind schließlich leer und wir ziehen los Richtung Club. Wir stolpern die Straße entlang, atmen die kühle Nachtluft ein und unsere Blicke werden wieder etwas klarer. Es ist nicht weit zu dem Club, in dem heute südamerikanischen Techno zum Besten gegeben werden soll (keine Ahnung, was das ist, aber es hört sich auf jeden Fall ultra urban und cool an). Wir sind vergnügt und voller Vorfreude. Natürlich halte ich mich nicht an mein Vorhaben und ziehe plötzlich an einer Zigarette, aber mein betrunkenes Hirn lässt sich beruhigen, indem ich ihm geduldig erkläre, dass man schließlich nur einmal jung ist, ich jederzeit aufhören kann und dass meine Generation nach der Coronapandemie einen Freifahrtschein für Dummheiten hat
Der Türsteher will die 3-G-Nachweise kontrollieren, routiniert halten wir ihm unsere Impfnachweise unter die Nase. Wir dürfen passieren, geben unsere Zweifel an der moralischen Vertretbarkeit eines alle Vorsichtsmaßnahmen ignorierenden Abends samt den Jacken an der Garderobe ab und stürzen uns ins Getümmel. Der Bass dröhnt, wir verstehen unser eigenes Wort kaum und es riecht nach Schweiß und Alkohol. Herrlich!
Den Tag über hatte ich meine Zweifel, ob ich überhaupt noch wusste, wie man feiern geht. Was, wenn ich überhaupt keinen Smalltalk mehr halten kann? Was, wenn mir das Ganze überhaupt keinen Spaß macht, weil ich mich so sehr an Freitagabende mit Buch oder Film gewöhnt habe? Was, wenn ich irgendeine ungeschriebene Regel breche?
Aber daran ist kein Denken mehr, ich stürze mich ins Getümmel, verliere mich in der Musik (alles, aber kein südamerikanischer Techno!) und fühle mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder unbeschwert. Zumindest dachte ich das, denn mein Unterbewusstsein ist noch immer im Corona-Modus. Als mir klar wird, dass der Kerl mir nicht auf ganz niederträchtige Art und Weise ein paar Aerosole samt Virenlast mitgeben, sondern mit mir tanzen möchte, ist es zu spät. Von meinem bösen Gesichtsausdruck erst irritiert, dann abgeschreckt, hebt er die Hände wie zu einer Entschuldigung und wendet sich ab.
Gut, es ist also nicht alles wie vorher. Vielleicht ist an unseren Frotzeleien, wir würden im Alter an Wahnvorstellungen von einer fortlaufenden Coronapandemie leiden, ja doch etwas dran. Vielleicht wird es nie mehr wie früher, vielleicht ist das aber auch gut so.
Wie auch immer – jetzt, (da ich diese Zeilen schreibe) im Januar/Februar, sind die Clubs längst wieder geschlossen und 3-G ist ein Ausdruck der Vergangenheit. 2-G-plus, Omikron und Impfpflicht sind die neuen Schlagworte – nur einen Monat später soll sich die Situation wieder in eine ganz andere Richtung ändern –, einen neuen Gesundheitsminister gibt’s obendrein.
Die Sache ist längst nicht vorbei. Umso schöner war es, kurz ein wenig Unbeschwertheit zu schnuppern. Und vielleicht, man traut es sich ja kaum auszusprechen, wird es ja etwas mit dem „fast normalen“ Sommer?
Von Malin Krieger
Beitrag erstellt am: 05.06.2022 um 10:01 Uhr
Letzte Änderung am: 05.06.2022 um 10:01 Uhr