Marvels Filme lassen vom Erfolg nicht ab. So wurde zuletzt Spiderman: No Way Home zu einem der finanziell erfolgreichsten Filme überhaupt. Innerhalb des Marvel-Filmkosmos, dem sogenannten MCU (Marvel Cinematic Universe) läutete der letzte Spiderman das Zeitalter der sogenannten Multiversen ein. Nun taucht auch Doctor Strange in diese ein und möchte uns unterhaltsam durch den titelgebenden Wahnsinn führen.
Eigentlich hätte Scott Derrickson, der auch für den ersten Doctor Strange Regie führte, diesen zweiten Film drehen sollen. Der geübte Horrorregisseur hatte schon eine Vision und eine Zusage von Marvel. Doch ein Jahr vor Drehbeginn verließ er wegen kreativer Differenzen den Regiestuhl und verblieb in der hinteren Reihe der Produzent*innen zum Film. Als das MCU Mitte der 2000er startete, erregte Marvel mit der Wahl unbekannterer Regisseure kleinerer Filme Aufsehen. Die Öffentlichkeit versprach sich ein Fest der Kreativität. Iron Man weist mit dem unerfahrenen Jon Favreau als Regisseur und dem eigentlich abgeschriebenen Robert Downey Jr., in der Hauptrolle Anzeichen dieser wilden Phase auf. Zur selben Zeit wurde damals bekannt, dass Autorenfilmer Edgar Wright für Marvels Antman verpflichtet wurde. Acht Jahre später und nur drei Monate vor Drehbeginn verließ auch er seinen Film wegen kreativer Differenzen. Ähnliches geschah bei Solo: A Star Wars Story, welches zu Marvels Mutterkonzern Disney gehört. Dort wurden das junge Regie- und Autorenduo aus Phil Lord und Christopher Miller, welche durch kleinere Comedyprojekte auffielen, noch während der Dreharbeiten durch den alteingesessenen Ron Howard ersetzt. Marvel (und Disney) lag also gar nicht so viel an der Kreativität dieser jungen, unbekannten Filmemacher.
Schon zu Iron Man 2 zeigte Marvel seine wirklichen Intentionen. Damals wurde wieder Jon Favreau verpflichtet, doch geriet in kreative Differenzen mit Marvels Chefs. Diese gaben dem Regisseur eine Liste an Punkten, die abzuarbeiten seien. Favreau, anders als die bisher genannten, verließ das Projekt nicht und leistete seinen Dienst ab. Im Ergebnis erhielten wir im Kino einen durchwachsenen Film, dem deutlich anzusehen sind, dass zu viele Köche in der Küche standen. Ähnliches geschah mit Joss Whedons Avengers: Age of Ultron. Marvel hatte eigene Prioritäten und wollte die Kontrolle voll ausschöpfen. So ist auch ihre Hinwendung zu Ron Howard erklärt; ein technisch fähiger Regisseur, der die Regeln der Industrie kennt und sich zu gern dem hingibt, was Studiochefs verlangen. Für ihn ist ein Film nämlich nichts mehr als ein Unterhaltungsprodukt. Nicht anders denken die Chefs bei Marvel.
Als Derrickson ausschied und Sam Raimi übernahm, gab es doch Grund zur Hoffnung auf Glück im Unglück. Ein Filmerlebnis, das über die stupide Abfertigung hinausgehen könnte. Denn Raimi war selbst ein ziemlich kreativer Kopf in der Vergangenheit. Er lernte das Filmemachen bei Horrorlegende George A. Romero. Raimis Horrorreihe The Evil Dead (deutsch: Tanz der Teufel) war, beginnend 1981, ein Lichtblick, aber auch seine großen Projekte abseits des Genrefilms, wie beispielsweise seine Spiderman-Reihe aus den 2000er Jahren, war zumindest unterhaltsam und überraschenderweise zeugte Spiderman 2 von Raimis Finesse als Horrorregissseur und somit von seiner Durchsetzungskraft gegen Studiochefs. Ironischerweise verlor er den Kampf spätestens zur Vorproduktion zum nie erstellten vierten Spiderman-Film. Doctor Strange in the Multiverse of Madness weist zwar einige erfreuliche Merkmale des Regisseurs auf, aber auch hier ist das letzte Wort bei Marvel. So kam es zu einer Unmenge an Änderungen des Drehbuchs, der Charaktere und des Plots.
Denn ursprünglich sollte Spiderman: No Way Home nach Doctor Strange in the Multiverse of Madness in den Kinos anlaufen, aber wegen undurchsichtiger Gründe (vermutlich unter anderem Kalkulationen der Quartalszahlen), wurden die jeweiligen Starttermine der beiden Filme getauscht. So sehr aber auch Raimis schätzenswerte Handschrift im Endprodukt zu sehen ist, tröstet das nicht über die verpasste Chance eines waschechten Horroralbtraums, den Derrickson ursprünglich im Sinn hatte. Diese Version des Doctor Strange in the Multiverse of Madness ist weder wirklicher Horror noch poppige Unterhaltung. Er ist überladen, unkonzentriert und zu allem Übel viel zu lang.
Das MCU ist ein Großprojekt, das organisch gewachsen ist. Einen Masterplan, wie hier und da behauptet wird, gibt es nicht. An sich entstehen Filme im kollaborativen Prozess. Sollte eine Filmemacherin eine Vision haben, so wird erst durch die Zuarbeit und gegebenenfalls Umarbeiten des Produktionsteams (Kamera, Licht, Drehbuch, Schnitt etc.) ein fertiger Film daraus. Der oben angeführte Kritikpunkt der ständigen Änderungen und kreativen Differenzen bezieht sich nicht auf den Umstand an sich. Änderungen während der Produktion können sogar nützlich sein und im Sinne des zu entstehenden Werks – sofern man Filme als Kunstwerke begreift und Filme mit der Intention des kreativen Ausdrucks erschaffen möchte. Diese Intention findet sich bei Filmemacherinnen kleinerer, günstigerer Filme ohne große Geldgeberinnen und ihrem Einspruch kreativer Entscheidungen. Je mehr Geld in der Produktion eines Films steckt, desto mehr Kontrolle möchten Studiochefs und Geldgeber*innen haben, um vermeintlich sicherzugehen, dass das Endprodukt mehr Geld in ihre Kassen einbringt. Dieses Grundmuster des Konflikts findet sich in jeder Industrie. Und in der Filmindustrie zeigt es sich unter anderem auch in der Wahrnehmung von Filmen als Werk oder Produkt. Die Chefs bei Marvel finanzieren Produkte. Ihre Eingriffe in kreative Entscheidungen der Filme kommen immer aus diesem Standpunkt und daher sind ihre oben schon angesprochenen Eingriffe zu kritisieren.
Aus demselben Standpunkt heraus, entschied sich Marvel damals zu einem Filmuniversum; also lose zusammenhängende Filme mit wiedererkennbaren Charakteren über einen langen Zeitraum. Dieses Vorgehen entnahm man sich direkt aus der Comicindustrie. Dort wurde 1971 das Marvel-Comic-Multiversum geschaffen, weil man neue Inhalte für die regelmäßig erscheinenden Comics brauchte. Leere Seiten verkaufen sich nicht. Es gab auch damals keine Intention eines Epos. Es wurden Charaktere neu interpretiert, zusammengeführt und getrennt, weil die eigentliche Kreativität ausgeschöpft war, man aber immer noch Geld verdienen musste – nicht unbedingt wegen einer sogenannten Profitgier, sondern, weil es schlicht eine Industrie ist, die nicht anders funktionieren kann.
Neuinterpretationen von Comiccharakteren gab es auch ohne Kontext eines Multiversums, aber erst das Multiversum konnte jeglicher faden Spielerei den Anschein eines ernstgemeinten Werks geben beziehungsweise dem ganzen hin und her vermeintlich Sinn verleihen. Auch dies ist nicht als eine Kritik an Comicarbeiten an sich zu verstehen. Es gibt viele Comics, die von einer künstlerischen Vision zeugen wie beispielsweise Frank Millers The Dark Knight Returns aus dem Jahr 1986. Der kam auch nur zustande, weil DC Comics den Charakter wieder präsenter setzen musste, um Geld zu verdienen im schwindenden Geschäft der Comics. So kam es auch kurz darauf zu Tim Burtons Batman aus dem Jahr 1989. Comics und Filme verschmolzen in der großen Unterhaltungsindustrie. Wie jede Industrie, folgt sie dem Zwang des Profits. Und ab und an kann dabei, dadurch oder destotrotz etwas einigermaßen Schönes entstehen. Doctor Strange in the Multiverse of Madness ist leider nicht schön.
Nach dem Ende von Spiderman: No Way Home warteten alle gespannt auf den nächsten Doctor Strange-Film. Dieser sollte an die Geschehnisse der letzten Ereignisse der Filme anknüpfen. Letztlich wurde die Story um Spiderman nur kurz erwähnt; einen Zusammenhang beider Filme gab es also nicht wirklich. Dafür erzählt der Film die Geschichte um Wanda aus der Disneyserie Wandavision weiter. Dieser Aspekt des Films ist leider mit ein Grund für den unausgewogenen Plot. Hier soll zum Einen das übergeordnete Multiverse manifestiert werden und zum Anderen wird noch Wandas Geschichte abgefrühstückt. Neben der bekannten Wanda wird dann auch noch ein neuer Charakter eingeführt: America Chavez. Statt an die durch die Serie Loki eingeführte Multiverselogik anzuknüpfen, wird hier aus dem Nichts ein neuer Charakter für den Multiverse-plot benutzt. Marvel kann nicht damit aufhören, Charaktere über Charaktere, Dimension über Dimensionen einzuführen. Es werden die immer selben Geschichten nach demselben Muster mit irgendwelchen Twists – deren Konsequenzen dann doch relativiert werden – erzählt, um die Geschichte des MCU nicht enden zu lassen.
Dass Doctor Strange in diesem Film dafür auch noch in die Multiversen eintaucht, die in ihren Grundzügen vom vermeintlichen Original nicht zu unterscheiden sind, macht das Ganze dann noch zu einem unfreiwilligen Satirefest, bei dem weder jemand lacht noch schlauer ist als zuvor. Man muss von Marvel keine Kunst erwarten, aber Täuschung und Lethargie muss man sich auch nicht gefallen lassen. Doctor Strange in the Multiverse of Madneess ist beliebig, sinnfrei und langweilig und somit noch nicht einmal unterhaltsam.
Filmtitel: Doctor Strange in the Multiverse of Madness
Regisseur: Sam Raimi
Starttermin: 04.05.2022
Dauer: 126 Min.
Genre: Superhelden
Von Özgün Kaya
Beitrag erstellt am: 19.05.2022 um 21:29 Uhr
Letzte Änderung am: 19.05.2022 um 21:31 Uhr
Über Özgün Kaya
… studiert Philosophie und Geschichte. Am liebsten sieht er Filme.