Karla Kolumna – die rasende Reporterin

Comicfigur Karla Kolumna
Karla Kolumna - eine Hoffnung für die Demokratie. Bearbeitung: Klaudia Kasek.

Ein Denkmal für den Lokaljournalismus.

„Journalisten sind nicht perfekt, so wenig wie Menschen in anderen Berufen perfekt sind. Doch die Arbeit von Menschen, die einem journalistischen Ethos Rechnung tragen, ist von anderer Qualität als die Arbeit derer, die das nicht tun.“

Timothy Snyder in Über Tyrannei

Denke ich an meine frühe Kindheit, erinnere ich mich (sicher ein wenig verklärt) an ein glückliches Aufwachsen in einer beschaulichen Kleinstadt, an Wiesen und Grünflächen direkt in der Nähe meines Wohnhauses, die zum Spielen und Toben einluden, an große und kleine Abenteuer, an eine Welt, in der sich junge Menschen einfach wohlfühlen mussten. Und ich erinnere mich an meine ersten wirklichen Medienheld*innen, die Protagonist*innen der multimedialen Serie Benjamin Blümchen. Die damals noch auf Video- und Audiokassetten erhältlichen Abenteuer rund um den namensgebenden gutherzigen, aber tapsigen sprechenden Elefanten aus dem Neustädter Zoo und seine Freund*innen begleiteten mich, als ich selbst die Welt zu erkunden begann. Ich reiste mit Benjamin in die Steinzeit, durchlebte mit seinem besten Freund Otto Ungerechtigkeiten durch Erwachsene. Ich bangte mit Zoodirektor Tierlieb um das Fortbestehen des permanent auf das Wohlwollen der kommunalpolitischen Entscheidungsträger (es sind natürlich stets Männer) angewiesenen Zoos. Und dann kam ich mit Karla Kolumna zu meinen ersten bewussten Berührungen mit dem Journalismus.

Gerade diese latent chaotische „rasende Reporterin“ faszinierte mich. Stets auf der Suche nach „sensationellen“ Neuigkeiten war sie permanent auf Achse und eilte mittels ihres ikonischen Mopeds, Helikoptern oder Heißluftballons jederzeit auf direktestem Wege zum Ort der spannendsten Geschehnisse. Dabei konnten sie Nebensächlichkeiten wie erhebliche räumliche Entfernungen, Sprachbarrieren oder politische Ein-flussnahmen gegen ihre Berichte genauso wenig aufhalten wie der teils noch nicht erfolgte Fortschritt der Menschheit. Bei einer Stippvisite in der Steinzeit bediente sie sich beispielsweise einer Art prähistorischen Laufrads mit viereckigen Rädern, schließlich lag die Entdeckung des runden Rades unserer Zeit noch in unabsehbarer Zukunft. Ihr durch Autorin Elfie Donnelly fast schon plakativ vermittelter Recherchefleiß, ihr kompromissloser Einsatz für politische Transparenz und das Wohl der Allgemeinbevölkerung und ihre konsequente Haltung gegen Vorteilsnahme im Amt, Selbstherrlichkeit der kommunalen Entscheidungsträger*innen und unfaire Behandlung von Bürger*innen beeinflusste, vom heutigen Standpunkt betrachtet, nicht nur meine frühe Persönlichkeitsbildung, sondern auch mein politisches Ich-Werden – noch lang nachdem ich der Serie entwachsen war.

Fiktion nah an der Realität

So fühlte ich mich immer wieder an diese journalistische Lichtgestalt erinnert, als ich voller jugendlichem Optimismus begann, mich kommunalpolitisch einzubringen. Schnell musste ich ernüchtert feststellen, dass der damalige Stadtrat meiner Heimatstadt weder das zukunftsfähige Gestalten unserer Stadt für alle Bürger*innen im Sinn hatte, noch fähig war, mit den komplexen Herausforderungen der Moderne umzugehen und kollektiv sozial integrative Lösungen zu finden. Vielmehr traf ich auf eine überalterte Gemeinschaft, in der die Mehrheit der Stadträt*innen nicht auf Grund ihrer (zumindest angenommenen) individuellen Kompetenzen gewählt worden war. Vielmehr waren die meisten Stadträt*innen durch über Jahrzehnte aufgebaute persönliche Bekanntheitsgrade und Vernetzungen in unserer recht überschaubaren Gemeinschaft genügend Wähler*innen zumindest indirekt ein Begriff, und so kamen ihre Wahlstimmen oft allein über die Bekanntheit ihres Namens zusammen, unabhängig von ihren häufig nahezu komplett fehlenden politischen Ideen und Visionen. Dies führte zu einer massiven Überalterung des Gremiums, da junge Engagierte die beschriebene Reputation noch nicht erarbeitet haben konnten. So stieß ich auf eine vorwiegend männliche Gemeinschaft mit einem Altersschnitt über 60 Jahren, deren Mitglieder häufig bereits seit der Wende ihre Posten besetzten und durch viele Jahre ohne den Versuch, politische Utopien umzusetzen, intellektuell und emotional gegenüber progressiven Ideen abgestumpft waren.

An der Spitze dieses überwiegend entmutigenden Gremiums saß die Person, die an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig war. Der damalige, seit der Wiedervereinigung ununterbrochen regierende Oberbürgermeister hatte inhaltlich und habituell einige Gemeinsamkeiten mit dem Bürgermeister des Neustädter Benjamin Blümchen-Universums: Nicht nur unterschritt seine Kompetenz dramatisch die Anforderung seines Amtes, auch war sein gesamtes Handeln geprägt von der selbstgerechten Gewissheit der Unangreifbarkeit. Wie der fiktive Bürgermeister Neustadts attackierte er lautstark und unflätig die Opposition und andersdenkende Bürger*innen. Ohne Rücksprache mit dem Stadtrat setzte er regelmäßig große Finanzsummen für die Projektierungen seiner fixen Ideen in den Sand, die (zum Glück) häufig an den Sachzwängen der politischen und finanziellen Realität scheiterten. Konsequent verweigerte er nahezu jeden Anklang an progressive Politik für ein neues Jahrtausend, zeigte sich aber gegenüber den Interessen der lokalen Bau- und Projektierungsunternehmen mehr als offen, seien sie auch noch so abwegig. Zugeständnisse an Bedürfnisse der Bürger*innen erfolgten tendenziell eher dann, wenn es der Zivilgesellschaft gelang, einen erheblichen Druck aufzubauen.

So konnten beispielsweise mit Unterschriftensammlungen die Sanierung des seit den 1970er Jahren unveränderten städtischen Sportplatzes oder der Erhalt des aufgrund der Interessen eines lokalen Immobilienunternehmens in politische Bedrängnis geratenen städtischen Tierparks (wieder eine Parallele zu Benjamin Blümchen) ermöglicht werden. Bei all dem blieb der Stadtrat über Jahre erstaunlich untätig; fast so, als wäre eine Mehrheit froh, sich dem Zorn des Oberbürgermeisters entziehen zu können. Diese Art der interessens- und beziehungsgesteuerten Politikführung mit autokratischen Zügen scheint kein kommunalpolitisches Einzelphänomen zu sein, ist es doch eine kongruente Kopie des Bürgermeisters, welcher bereits 2005 im Magazin Aus Politik und Zeitgeschehen der Bundeszentrale für politische Bildung für Diskussion sorgte: Ein konservativer Politikwissenschaftler beklagte bitterlich die Darstellung des Bürgermeisters bei Benjamin Blümchen, welche angeblich dazu diene, von „linksliberal[er] bis linksalternativ[er]“ Seite aus die Arbeit der Bürgermeister*innen des Landes zu verunglimpfen. Dabei ist diese Figur weniger eine Karikatur als vielmehr der Versuch, einen nicht gerade selten auftretenden Typus kommunaler Politiker (es sind nahezu immer Männer) abzubilden, ohne die zusehenden Kinder zu verstören. Es handelt sich also eher um einen Euphemismus als um eine Hyperbel der Inkompetenz vieler politischer Entscheidungsträger*innen.

Dieser Person gegenüber standen neben einer aufgeweckten und aktiven, jedoch aufgrund des kleinen Personenkreises einer Kleinstadt häufig erschöpften Zivilgesellschaft die realen Kolleg*innen Karla Kolumnas: Die Journalist*innen der beiden lokal erscheinenden Tageszeitungen. Unermüdlich berichteten sie aus dem damals sehr intransparenten kommunalpolitischen Geschehen, sammelten Verbindungen und Ideen, verschafften neben den politischen auch den zivilgesellschaftlichen Akteur*innen eine Bühne und ermöglichten so den Bürger*innen einen Einblick in aktuelle politische Abläufe, was nicht selten öffentliche Debatten und die ein oder andere Protestbewegung auslöste.

Seit meinem Einstieg in die Lokalpolitik hat sich einiges zum Positiven verändert: Nicht nur trat ein progressiver und frischer neuer Oberbürgermeister die Nachfolge des Provinzautokraten an, auch wurde der Stadtrat in seiner neuen Legislatur etwas jünger und diverser zusammengewählt und eine Mehrheit in lokaler Politik und Verwaltung bemüht sich, einen deutlichen Zugewinn an Bürgerbeteiligung und Transparenz herzustellen. Unsere Lokaljournalist*innen stellen jedoch als vierte Gewalt vor Ort weiterhin eine wichtige Säule im politischen System dar. Sie helfen dabei mündige und kritische Bürger*innen zu bilden, indem sie Informationen für alle bereitstellen und eine (nicht immer durch alle Akteur*innen) gewünschte Öffentlichkeit herstellen. Dadurch leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung und Bewahrung eines toleranten, weltoffenen und demokratischen öffentlichen Diskurses leisten.

Hierin ähnelten und ähneln sie der fiktiven Lokaljournalistin Karla Kolumna immens, was mich zur Ausgangsposition zurückbringt: Karla Kolumna als gezeichnete Würdigung des engagierten Lokaljournalismus. In ihrer Zeichentrick-Welt ist sie immer dann zu Stelle, wenn es „sensationelle“ Neuigkeiten zu berichten gibt: auftretende Ungerechtigkeiten, überschrittene Kompetenzen und Berechtigungen, entgegen den Bedürfnissen der Bürger*innen Neustadts getroffene Entscheidungen. Durch ihre Berichterstattung ermöglicht sie es den wachen Geistern ihrer Stadt, ein Podium und somit Mitstreiter*innen zu gewinnen und dadurch die lokale Meinungsbildung um unerlässliche Positionen und Ideen zu bereichern. Insbesondere für engagierte Kinder und Jugendliche schafft sie die Räume, in denen sie auf offene Ohren stoßen, Räume, die in der fiktiven wie realen Politik leider viel zu häufig verschlossen bleiben, durch interessierte Journalist*innen jedoch auch immer echten Leben immer häufiger aufgetan werden. Kurzum: Karla Kolumna ist eine moderne Heldin der Demokratie, im besten Sinne der Bezeichnung.

Mit der Figur der Karla Kolumna gelang es Elfie Donnelly, bereits einem sehr jungen Publikum die unermessliche Bedeutung einer kompetenten, engagierten und informierten lokalen Berichterstattung zu vermitteln – eine Lektion, die sie angesichts der reellen Verhältnisse in vielen Lokalparlamenten und eines um sich greifenden politischen Populismus nicht früh genug vermittelt bekommen können.

Die Held*innen unserer Zeit

Dass die Rolle der Lokaljournalist*innen als „Helden unserer Zeit“ nach Timothy Snyder weit über diese demokratie(weiter)bildenden Aufgaben hinausreichen und ihre Arbeit sogar über das Leben oder Sterben unzähliger Menschen entscheiden kann, demonstriert der US-Historiker in seinem Essay Die amerikanische Krankheit. Er zeigt auf, dass die Opioid-Krise durch die weitgehende Abwesenheit des Lokaljournalismus in den Vereinigten Staaten öffentlich nur gering beachtet wurde. Ehe sie ins allgemeine Bewusstsein rückte und mensch erste Maßnahmen ergriff, hatte sie bereits zu tausenden Toten geführte.

Auch konnte aus demselben Grund die Trump-Administration Anfang 2020 wochenlang die Existenz und Gefahr der Corona-Pandemie leugnen, da oftmals wegen eines Mangels lokaler Berichte kein persönlicher Bezug zu dieser globalen Krise hergestellt wurde. Gleichzeitig weist Snyder nach, dass die zivilgesellschaftliche Beschäftigung mit der Pandemie durch engagierte noch aktive Lokalredaktionen mittels Reportagen aus den örtlichen Krankenhäusern maßgeblich befördert werden konnte. Dies führte zu erheblichem politischem Druck auf die Regierung und letztendlich zur Einführung einiger (freilich nicht ausreichender) Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Er resümiert: „Die [lokale; Anm. d. A.] Berichterstattung stellt wie medizinische Tests eine Möglichkeit dar, Fakten zu schaffen. Der Reporter versucht, objektiv zu sein, einem Ereignis nahezukommen und gleichzeitig die Emotionen auf Distanz zu halten. Eine Lokalzeitung vermittelt das Gefühl einer gemeinsamen Welt; die gewonnenen Erkenntnisse sind glaubwürdig. Wie medizinische Tests kann uns die Berichterstattung die Dinge sagen, die wir hören müssen. Redefreiheit bekommt dann einen Sinn, wenn wir etwas haben, über das wir sprechen können.“

In diesem Sinne können wir den realen Karla Kolumnas unserer Zeit nur unseren größten Respekt und Tribut zollen, was sich, wenn dies finanziell möglich ist, in jedem Fall auch in einem Print-Abonnement der lokalen Tageszeitung niederschlagen sollte. Denn nichts ist so schädlich für den lokalen Diskurs wie Einsparungen im lokalen Journalismus oder gar der Wegfall der örtlichen Berichterstattung. Dass Lokalredaktionen massiv zusammengestrichen oder ganz geschlossen werden, ist eines der großen Übel unserer Zeit. Es liegt nicht zuletzt begründet in den ökonomischen Folgen der durch die Omnipräsenz des Internets imaginierten, digitalen permanenten Verfügbarkeit schneller Informationen und des unter anderem damit korrelierenden Verlernens eines analogen demokratischen Engagements bei einem immer größer werdenden Teil der Gesellschaft. Wenn die lokale vierte Gewalt wegfällt oder Journalist*innen durch Unterbesetzung nicht mehr die Möglichkeit haben, über alle relevanten Themen einer Stadt kenntnisreich und pointiert zu berichten, entsteht eine zunehmend wachsende Nachrichtenwüste, welche populistischen Provinztrumps und Lokalautokraten (fast immer sind es Männer) zuverlässig den Weg in die örtliche Politik öffnet. Dies hat verheerende Folgen für Kommunen als kleinste Ebene der Politik, was sich letztendlich in massivem Verlust des allgemeinen Vertrauens in die Politik niederschlägt. Aus diesem Grund ist eine verlässliche Finanzierung lokaler Tageszeitungen unerlässlich für eine demokratische und lebenswerte Gesellschaft – im ganz kleinen wie im internationalen Rahmen. Dies zu gewährleisten ist mit zunehmender Abnahme von Print-Abonnements bereits heute und noch viel mehr zukünftig eine kooperativ zu beantwortende Aufgabe für die Zivilgesellschaft und die demokratisch orientierte Politik. Scheitern wir dabei, drohen uns gesellschaftliche Erosionserscheinungen, welche wir derzeit live in den USA beobachten können.

All diese und noch viele weitere gedankliche Assoziationen weckt die Zeichentrickfigur Karla Kolumna. Sie ist ein Gedankenanstoß, gleichsam für Kinder und Erwachsene (und engagierte Lokaljournalist*innen). Vor allem aber ist sie eine: Eine liebenswürdig dargestellte empathische Figur, die ein Bewusstsein für den journalistischen Ethos und die immense Bedeutung journalistischer Arbeit wecken kann. Vielleicht inspiriert sie ja die eine oder den anderen, eine journalistische Laufbahn einzuschlagen und selbst informierend tätig zu werden. Sicher jedoch motiviert Karla Kolumna alle ihr zusehenden Kinder (und tief im Herzen kindgebliebenen Erwachsenen) dazu, Dinge zu hinterfragen, Zusammenhänge zu erschließen und sich selbst aktiv in die Gesellschaft ein-bringen zu wollen. Und das ist das Beste, was eine fiktive Figur in der heutigen Zeit erreichen kann.

In diesem Sinne: Danke Elfie Donnelly für die wunderbare Figur der Karla Kolumna!

Von Christoph Macholdt

Beitrag erstellt am: 01.06.2021 um 09:56 Uhr
Letzte Änderung am: 01.06.2021 um 09:56 Uhr