Die Schattenseiten der Unendlichkeit

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In Scythe wird der Mensch zum Hüter des Todes und vor schwierige ethische Fragen gestellt.

Was würde geschehen, wenn die Menschheit den Tod besiegte? Wie sähe eine Welt aus, in der es keine Kriege, Krankheiten und Hungersnöte gäbe? Wenn das menschliche Leben über den natürlichen Tod triumphierte, welche Grenzen gäbe es dann überhaupt noch? Diesen Fragen und den daraus resultierenden ethischen Herausforderungen geht der amerikanische Schriftsteller Neal Shusterman in seiner Dystopie Scythe – Die Hüter des Todes auf den Grund.

Der Jugendroman erschien 2017 im Fischer Sauerländer Verlag und spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft. Die künstliche Intelligenz Thunderhead kontrolliert die gesamte Gesellschaft und arbeitet fehlerfrei ohne Gewissen. Der Menschheit ist es gelungen, den natürlichen Tod zu besiegen. Die Gesellschaft wirkt perfekt, denn Armut, Kriege und Kriminalität gehören der Vergangenheit an. Niemand stirbt mehr wegen Alter oder Krankheit, sondern kann sich nach Belieben verjüngen lassen. Künstlich erzeugte Selbstheilungsprozesse bekämpfen sofort jede Verletzung und wenn ein Mensch durch einen Unfall oder dergleichen stirbt, wird er*sie innerhalb weniger Tage in einem Revivalcenter wiederbelebt. Um der zwangsläufig drohenden Überpopulation und Ressourcenknappheit entgegenzuwirken, wurde das Scythetum gegründet. Die Aufgabe der ausgewählten Scythe (englisch: Sense) ist es, gezielt Menschen ‚nachzulesen‘ und somit ihre unsterbliche Existenz zu beenden. Die beiden Teenager Citra und Rowan werden gegen ihren Willen ausgewählt, die Lehrlinge des Scythe Faraday zu werden, und stehen vor der Herausforderung, die Kunst des Tötens zu erlernen.

In dieser Dystopie ist das Motiv des Todes allgegenwärtig und zwingt die Leser*innen permanent über die eigene Sterblichkeit und ein mögliches Leben nach dem Tod nachzudenken. Shusterman erzeugt eine Atmosphäre der Bedrückung und Schwermut, die tiefsinnige und moralische Gedankenexperimente auslöst. Neben den Vorzügen der Unsterblichkeit werden vor allem deren Nachteile deutlich. Wie fühlt es sich an ewig zu leben? Aber vor allem: wie kann ein Mensch ein sinnerfülltes Leben führen, wenn es niemals endet? Der Roman stellt Fragen, auf die es keine Antworten gibt und offenbart Handlungen, die moralisch fragwürdig sind. Während ein*e Mörder*in in unserer heutigen Gesellschaft bestraft und eingesperrt wird, handelt ein*e Scythe angeblich für das Allgemeinwohl. Es gibt bestimmte Regeln, die verhindern sollen, dass ein*e Scythe zum Beispiel aus rassistischen Gründen nachliest. Trotzdem werden den Scythe bei der Nachlese viele Freiheiten eingeräumt, solange sie eine bestimmte Quote erfüllen. Es ist beispielsweise freigestellt, auf welche Art und Weise sie die Menschen nachlesen. Während manche Scythe sich einen Spaß daraus machen, ihre Opfer möglichst lange zu quälen, zeigen andere Empathie und Gnade. Dadurch werden die Scythe sehr stark in starre Kategorien von Gut und Böse eingeteilt. Die Antagonisten haben wenig psychologische Tiefe, da ihr Handeln lediglich durch ihre Lust am Töten begründet wird. Sie werden gefühlskalt und viel monströser als die anderen Scythe dargestellt, obwohl auch diese Mörder*innen sind.

Der allwissende Erzähler ermöglicht einen umfassenden Blick auf das Geschehen und kreiert immer wieder Spannung durch unerwartete Ereignisse und Wendungen. Es wird sowohl Citras als auch Rowans Perspektive beleuchtet, was für die Spannungskurve sehr förderlich ist. Jedoch werden dadurch die Nähe und Verbundenheit zu den Figuren eingebüßt. Vor allem die Beziehung zwischen Citra und Rowan wird sehr oberflächlich behandelt. Sie wird ab einem gewissen Zeitpunkt einfach als gegeben dargestellt, ohne dass sie vorher nachvollziehbar aufgebaut wurde. Dementsprechend wirken manche Handlungsgründe, die auf dieser Beziehung aufbauen, nicht ausreichend lebensecht oder überzeugend. Weiterhin wird jedes Kapitel durch einen kurzen Tagebucheintrag verschiedener Scythe ergänzt. Dies ist ein sehr angenehmes Mittel, das einerseits die nötigen Informationen über die Welt und weiteres Hintergrundwissen vermittelt, aber andererseits den Verlauf der Handlung nicht stört. Scythe erfüllt vor allem seine Aufgabe als erster Band einer Trilogie, indem es die Leser*innen in seine Welt und ihre Regeln einführt und damit die Weichen für die weiteren Bände stellt.

Es ist eine interessante und gleichermaßen angsteinflößende Dystopie, welche die Leser*innen mit komplexen Fragen bezüglich der (Un-)Sterblichkeit und dem Tod konfrontiert. Trotz vereinzelter Schwächen erweckt Scyhte die Neugier der Leser*innen auf die Fortsetzungen.

Neal Shusterman: Scythe – Die Hüter des Todes
Fischer Sauerländer: 2017, 528 Seiten, 15€
ISBN: 978-3-7373-5698-5
Fortsetzungen (Trilogie):
Scythe – Der Zorn des Gerechten (2018)
Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten (2019)

Von Eileen Michalski

Beitrag erstellt am: 13.05.2021 um 09:00 Uhr
Letzte Änderung am: 13.05.2021 um 09:00 Uhr