Thematisiert die Filmindustrie die Wirtschaftswelt, kommen dabei meist abenteuerliche Portraits von Individuen heraus, die von Gier und Machtbesessenheit getrieben zu sein scheinen. Schick gekleidete Raubtiere wie der fiktionale Gordon Gekko aus dem Film Wall Street bestimmen bis heute das Bild moderner Banker*innen. Profitstreben wird dabei oft als emotionales Unglück gedeutet. Verschuldung, Armut und Not wären Unfälle, die im Klein-Klein zu beheben seien. Das große Ganze, der Kapitalismus, liefe doch einwandfrei. Schließlich verdanken wir diesem unseren Lebensstandard. Befindet man sich unterhalb des allgemeinen Lebensstandards, sei eigene Anstrengung gefragt. Letztendlich sei immer das Individuum für die eigene Situation verantwortlich – viele Aufsteiger*innen und einzelne gierige Banker*innen. Das Konzept von guten und bösen Menschen eben. Nicht so in Oeconomia.
Die Filmemacherin Carmen Losmann besucht führende Banker Europas, die für die Geldpolitik zuständig sind. Mit einem Stativ, einer Kamera und wenigen Fragen nach dem Wie, schafft sie es, Licht in das Dunkel der Mechanismen hinter der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und ihrer Freund*innen aus dem Privatsektor zu bringen. Unbeantwortete Fragen lässt sie, anders als andere Journalist*innen, nicht im Raum stehen, sondern hakt nochmals nach. Phrasen im Interview entgegnet sie mit Fakten und dem Kinopublikum stellt sie anschauliche Infographiken zur Verfügung. Die von den interviewten Bankern als hochkomplex beschriebene Geldpolitik scheint von Minute zu Minute doch nicht so komplex zu sein. Zumindest erschließt sich das dem Kinopublikum. Die Banker jedoch verzetteln und verhaspeln sich und wissen meist gar nicht um die Zusammenhänge, mit denen Carmen Losmann sie konfrontiert. Manche von diesen Bankern verteidigen die inhumanen Konsequenzen, die sich aus ihrer Arbeit und dem Befolgen der kapitalistischen Logik ergeben, andere wollen sie schlichtweg nicht wahrhaben und verleugnen die Realität; die Absurdität des Funktionalen. Es sind vor allem diese Szenen der Entblößung, die den Dokumentarfilm so sehenswert machen. Nicht in Skandalen zeigt sich die destruktive und inhumane Natur des Kapitalismus, sondern in der Normalität des Grauens, wie sie Losmann hier aufzeigt.
Mit Oeconomia ist ein seltener Fall in Dokumentarfilmen erreicht: Das Publikum ist am Ende schlauer als zuvor.
Auf der Website http://oeconomia-film.de sind weitere Informationen mit detaillierteren, verschriftlichten Analysen zu den Zusammenhängen von Profit, Reichtumskonzentration und Verschuldung im Kapitalismus, sowie Erklärungen zu möglichen alternativen Wirtschaftsformen zu finden.
Filmtitel: Oeconomia
Regisseurin: Carmen Losmann
Starttermin: 15.10.2020
Dauer: 89 Minuten
Genre: Dokumentarfilm
Von Özgün Kaya
Beitrag erstellt am: 06.01.2021 um 09:50 Uhr
Letzte Änderung am: 06.01.2021 um 17:05 Uhr
Über Özgün Kaya
… studiert Philosophie und Geschichte. Am liebsten sieht er Filme.