Einmal nach Südamerika. Das war schon immer ein Traum von mir, aber lange Zeit unvorstellbar. Aus welchen Gründen kann ich gar nicht genau sagen. Vielleicht lag es daran, dass ich kein Spanisch sprechen konnte und mich die Kriminalität dort abgeschreckt hat. Nachdem ich allerdings einige Länder in Asien, Europa, den USA und sogar Australien bereist hatte, tauchte dieser wundersame Kontinent wieder in meinen Gedanken auf. Dazu kam, dass ich unbedingt einmal „Workaway“ ausprobieren wollte. So nahmen die Dinge ihren Lauf. Und was soll ich sagen, das, was ich von Südamerika gesehen habe hat mich verzaubert! Wie ich mich auf meiner Reise gefühlt habe, was ich erlebt habe und welche Orte mich bewegt haben, erzähle ich euch in diesem Reisebericht.
Für diejenigen, die es nicht kennen: Workaway ist eine Plattform, die den Austausch zwischen Reisenden und Gastfamilien ermöglicht. Für 30 Euro pro Jahr kann man sich dort ein Profil erstellen und zu Menschen auf der ganzen Welt Kontakt aufnehmen. Das Prinzip ist ganz einfach. Für ein paar Stunden Arbeit am Tag bekommt man ein Bett zum Schlafen und gegebenenfalls auch warme Mahlzeiten. Die Auswahl ist groß. Von Babysitting, Hausarbeit, Farmarbeit bis hin zu sozialen oder ökologischen Projekten ist alles dabei. Wer nicht einfach Urlaub machen möchte, sondern vorhat, richtig in die Kultur des Landes einzutauchen und dessen Sprachen zu lernen, für den*diejenige ist solch ein Austausch perfekt.
Nach langem Überlegen, wohin die Reise gehen sollte, entschied ich mich für ein Workaway in einem kleinen Hostel in der Hafenstadt Valparaíso, Chile. Die Organisation ging schneller als gedacht. Nach einem kurzen Austausch mit dem durchaus gelassenen Hostelbesitzer war alles geklärt. Da sich meine derzeitigen Spanisch-Kenntnisse eher auf „hola“ und „gracias“ beschränkten, habe ich die Chance genutzt und noch einen Spanisch Kurs an der Universität belegt. Die Menschen in Südamerika sind nämlich dafür bekannt, eher kaum bis gar kein Englisch zu sprechen. Ein paar Monate später stand ich dann mit meinem Backpack und einem Gefühl von Aufregung und Freude am Frankfurter Flughafen. Nach einem 20-Stunden-Flug, während dessen ich dank Schlaftabletten fast durchweg geschlafen habe, stieg ich in Santiago de Chile aus. Dort offenbarten sich schon erste Verständnisschwierigkeiten. Es stimmte also: Hier spricht keiner auch nur ein Wort Englisch. Ob ich im richtigen Bus nach Valparaíso saß, wusste ich erst als ich die bunten Hügel der Stadt sah, von denen ich schon so viel gehört hatte.
Als ich aus dem Bus ausstieg, war mein erster Gedanke, „Wow“! So eine Stadt hatte ich noch nie zuvor gesehen. Alles war bunt und laut und lebendig. Auf meiner Suche nach dem Hostel wanderte ich durch die befüllten Straßen von Valparaíso. Doch neben dem Gefühl der Freude, endlich in Südamerika zu sein, begleitete mich auch eine gewisse Unsicherheit. Ich hatte die Worte von all den Menschen Zuhause im Ohr, wie gefährlich es hier doch sei und dass ich jederzeit überfallen und ausgeraubt werden könnte. Die Gewissheit, gerade mit all meinen Sachen auf dem Rücken als offensichtlicher Touri durch die Gegend zu laufen, empfand ich da als eher unberuhigend. Die Suche war dann zum Glück relativ kurz. Nachdem ich mich durch die zahlreichen Obst- und Gemüsestände vor der Haustür gekämpft hatte, lief ich die Treppe zum Hostel hoch und wurde direkt von einer herzlichen Spanierin in die Arme geschlossen. Sie arbeitete ebenfalls als Volontärin und ich wurde schon mit Freude erwartet. Nach meiner langen Reise war ich erstmal glücklich, so lieb aufgenommen geworden zu sein. Der türkische Hostelbesitzer Bugra gab mir sogar die ersten Tage frei, damit ich die Stadt erkunden konnte.
So lautet der bekannte Slogan, der auf einem Treppenabsatz steht und wohl das berühmteste Street Art Werk in Valparaíso ist. Valparaíso ist eine einzigartige Stadt. Sie hat mich mit ihren Hügeln und bunten Farben zunächst an San Francisco erinnert. Soweit das Auge reicht, findet sich Straßenkunst. An jeder Hauswand, jeder Mauer, jedem Dach oder Straßenlaterne prangen kunstvolle Graffitis. Valparaíso war aufgrund der kleinen, verwinkelten Gassen und der bunten Häuser schon immer eine Inspiration für viele Künstler*innen. Heutzutage ist es sogar so, dass die Bewohner von Valapraíso ihre Hauswände den Künstlern frei zur Verfügung stellen. Die Bilder an den Wänden dienen nämlich nicht nur der Verschönerung, sondern sollen die politische Unzufriedenheit im Land ausdrücken und auf die soziale Ungleichheit aufmerksam machen.
Die Hafenstadt, welche von ihren Bewohner*innen auch liebevoll „Valpo“ oder auch „Juwel des Pazifiks“ genannt wird, besitzt rund 40 Hügel und ist bekannt für die vielen Aufzüge, die noch aus der Kolonialzeit stammen. Als Literaturbegeisterte habe ich mich gleich auf den Weg zu dem ehemaligen Haus von Pablo Neruda gemacht, welches heute ein Museum ist. Pablo Neruda war ein großer chilenischer Dichter und Schriftsteller, der sich gegen den Faschismus in seinem Heimatland und in Spanien einsetzte und 1971 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
Wenn einem das Laufen zu viel wird, gibt es die Möglichkeit, in einen der vielen Busse einzusteigen. Busfahren ist ohne Zweifel ein kleines Abenteuer in Valparaíso. Denn die Busfahrer halten oft nicht richtig an, sodass man während der Fahrt aus dem Bus rausspringen muss. Darüber hinaus scheinen die Busfahrer zu glauben, sie seien in einem „Fast and Furios“-Film und fahren dementsprechend schnell und überholfreudig. So war ich jedes Mal froh, wenn ich die Fahrt gut überstanden hatte. Wenn nach dem ganzen hoch und runter laufen oder einer rasanten Busfahrt der Magen knurrt, finden sich an jeder Ecke gleich mehrere Stände an denen Empanadas (gefüllte Teigtaschen) verkauft werden. Generell wird auf der Straße eigentlich alles Mögliche verkauft: Von Lebensmitteln, Zigaretten bis hin zu Autoreifen oder Toilettendeckeln ist alles dabei.
Insgesamt waren wir sechs Workawayers. Neben mir und der Spanierin, arbeiteten noch ein französisches Pärchen und zwei deutsche Frauen im Hostel. Der Schichtplan war unterteilt in Morgen-, Nachmittags- und Abendschicht. Neben den typischen Aufgaben wie Saugen, Putzen, Wäsche waschen oder Rezeption, gab es noch eine besondere Aufgabe – Brot für das Frühstück zu backen. Außerdem gab es im Hostel drei kleine Katzen, die regelmäßig gefüttert werden mussten. Die beste Schicht war die Abendschicht. Hier musste ich eigentlich nichts machen außer auf die Klingel hören. Ganz entspannt konnte ich so mit einem Glas Wein bei den anderen auf der Terrasse sitzen. Im Allgemeinen habe ich mich in dem sehr alten, aber schönen Gebäude des Hostels und den Menschen dort sehr wohl gefühlt. Es gab immer ein Grüppchen gut gelaunter Reisender, mit denen man entweder am Strand entspannen, einen Wanderausflug in den Nationalpark „La campana“ unternehmen oder durch das Nachtleben ziehen konnte.
Am 18. und 19. September, den Fiestas Patrias, feiert Chile seine Unabhängigkeit von Spanien und der Monarchie. Statt nur die beiden Unabhängigkeitstage zu feiern, feiern die Chilenen gleich die ganze Woche. Überall in der Stadt werden die sogenannten „Fondas“ veranstaltet, welche sich mit einer Art riesiger Kirmes vergleichen lassen. Von Achterbahnen, Gewinnspielen, Essensständen bis hin zu Konzerten ist alles dabei. Die „Fondas“ ziehen auch viele Touristen an, sodass unser Hostel komplett ausgebucht war. Unsere schöne, gemütliche Atmosphäre im Hostel wurde für eine Woche von Trubel und Partystimmung ersetzt. So war es für mich kaum vorstellbar, dass nur einen Monat später die Stimmung komplett kippen sollte. Nun bekam ich Videos zusehen, wie die Gebäude gegenüber des Hostels, indem ich noch kurz zuvor gelebt hatte, im Zuge von Protesten zerstört und teilweise in Brand gesetzt wurden.
Die Geschichte Chiles ist nach seiner Unabhängigkeit und der Gründung der Republik von turbulenten politischen Ereignissen geprägt. Allem voran vom Sozialismus und der darauffolgenden Militärdiktatur. Nach dem Suizid des sozialistischen Präsidenten Salvador Allendes, bei dem blutigen Militärputsch am 11. September 1973, herrschte eine strenge Militärdiktatur unter der Führung von Augusto Pinochet. Tausende Anhänger*innen Allendes wurden in den zahlreich errichteten Geheimgefängnissen des Militärs gefoltert und ermordet. Nach 15 Jahren Diktatur kehrte das Land in die Demokratie zurück. Noch heute ist Chile geprägt von politischen Unzufriedenheiten im Land, wie die Aufstände der Bevölkerung, die zuerst in Santiago de Chile begannen, zeigten. Die Menschen protestierten gegen die sozialen Ungleichheiten und die derzeitige Regierung des Präsidenten Piñeras.
Trotz aller Befürchtungen bin ich auf meiner Reise ausschließlich auf sehr herzliche und gastfreundliche Menschen getroffen. Einmal wurde ich in Valparaíso auf offener Straße von einem chilenischen Ehepaar zuerst in ihren Garten und dann noch zum Abendessen eingeladen. Obwohl wir uns kaum verständigen konnten, war es ein sehr schöner Abend, an den ich mich noch gerne erinnere. Die beiden lebten in einem kleinen, heruntergekommenen Haus, das aufgrund nur weniger Fenster, sehr dunkel war. Die Ehefrau führte mich stolz herum und zeigte mir die Aussicht. Ich weiß noch, dass ich es sehr schade fand, dass ich nur so wenig auf Spanisch sagen konnte. Ein anderes Mal traf ich auf zwei chilenische Geschwister, die in Valparaíso ihre Familie besuchten. Sie luden mich ein, doch vor meinem Rückflug noch ein paar Tage bei ihnen in Santiago de Chile zu wohnen, was ich dann auch tat. Auch auf meiner Weiterreise durch die Atacamawüste und die Salzwüste in Bolivien habe ich nur positive Erfahrungen gemacht. Mittlerweile habe ich so viele Menschen in Südamerika kennengelernt, die mich eingeladen haben, sie doch bald einmal bei sich zuhause zu besuchen, dass ich nicht anders konnte als schon die nächste Reise zu planen.
Von Lea Brüggemann
Beitrag erstellt am: 03.10.2020 um 16:22 Uhr
Letzte Änderung am: 07.10.2020 um 19:36 Uhr