Köln-Sülz, Sonntagmorgen, 7:20 Uhr. Die Vögel zwitschern und es verspricht, ein sonniger Spätsommertag zu werden. Verschlafen trotte ich zum Schiller-Gymnasium. Ich folge der Beschilderung und lande in der Aula, wo bereits gut zwanzig andere Frühaufsteher geschäftig herumwuseln. Unsicher bleibe ich im Eingang stehen. Woher wissen die alle, was zu tun ist? Wo muss ich hin?
Heute stehen die landesweiten Kommunalwahlen an und ich bin als Wahlhelferin dabei. Schon vor Monaten habe ich mich registriert, aber nie eine Rückmeldung erhalten, bis am Donnerstag vor den Wahlen schließlich die Nachricht mit der Aufforderung eintrudelte, ich möge mich doch bitte am Sonntag um 7:30 Uhr in der Schule einfinden und meine Ernennungsurkunde vorweisen. Eine Urkunde habe ich nie erhalten und einen – anscheinend verpflichtenden – Lehrgang habe ich auch nicht absolviert. Aber da bin ich nun. Zum Glück hilft mir eine nette Dame weiter und schickt mich zu meinem Team. Mein Team, das sind drei weitere Frauen und drei Männer. Gemeinsam sind wir für einen Wahlbezirk zuständig. Wir sind unterschiedlichsten Alters, unterschiedlichster Herkunft und wohl auch unterschiedlichster politischer Meinung. Uns eint aber die Bereitschaft, heute unseren Beitrag zur Demokratie zu leisten.
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde (die Namen verstehe ich wegen des Mundschutzes nicht) beginnen wir, unser Wahlbüro einzurichten. Wir schieben Tische herum, bauen die Wahlkabine und die Urnen auf, legen Desinfektionstücher bereit und kleben Abstandsmarkierungen auf den Boden. Auch diese Wahl findet, wie alles in Pandemiezeiten, unter besonderen Vorkehrungen statt. Dass ich derart unvorbereitet bin, stört hier niemanden, denn es wird jede helfende Hand gebraucht. Unser Wahlvorstehender hat vor zwanzig Jahren zum ersten Mal mitgeholfen. Andere sind, so wie ich, zum ersten Mal dabei. Neben dem Wahlvorstehenden gibt es eine Schriftführerin, die für das Wählerverzeichnis und die Übermittlung der Ergebnisse zuständig ist. Wir anderen sind Beisitzer*innen, das heißt, wir erledigen alle anfallenden Arbeiten, die uns der Wahlvorstehende und die Schriftführerin zuteilen.
Insgesamt vier Wahlbezirke wählen in der Aula. Pro Bezirk gibt es eine Wahlkabine. Warum nicht jedem Bezirk ein Klassenraum zugeteilt wurde und weshalb bloß eine Wahlkabine zur Verfügung steht, weiß hier niemand, doch es stört alle. Mindestabstandsregeln werden kaum einzuhalten sein und zu versuchen, sie durchzusetzen, wird erhebliche Verzögerungen und Wartezeiten bedeuten. Schon bevor das Wahllokal um 8 Uhr öffnet, bilden sich lange Schlangen. Um die Mittagszeit ist der Ansturm so groß, dass die Wähler*innen mitunter eine halbe Stunde warten müssen, um ihre drei Kreuze zu machen. Schnell zeichnet sich ab, welche Bezirke wahlbegeistert sind und welche nicht. Auch wir haben ordentlich zu tun. Wer ankommt, muss zunächst seine Wahlbenachrichtigung vorzeigen. Die Schriftführerin überprüft diese und hakt den Namen im Verzeichnis ab.
Auch wer die Benachrichtigung nicht vorzeigen kann, darf wählen. Dafür muss der*diejenige seinen Ausweis vorlegen. Dann wird er*sie im Wählerverzeichnis gesucht und bekommt seinen Wahlbezirk genannt.
Nach dem Erhalt der drei Wahlzettel („Guten Morgen! Der weiße Zettel ist für die Oberbürgermeister*innenwahl, der rote und der grüne sind für den Stadtrat und die Bezirksvertretung. Nein, Sie müssen die Zettel nicht trennen!“) geht es in die Wahlkabine. Manch eine*r kreuzt schnell an, andere setzen sich hin und überlegen noch einmal gründlich. Besonders Eilige wollen, noch während sie in der Schlange stehen, ihre Wahlzettel ausfüllen und einwerfen. Das wäre aber eine ungültige Stimme, worauf wir Wahlhelfer*innen freundlich, aber bestimmt hinweisen. Gleiches gilt für Paare, die zu zweit in die Kabine wollen: Wahlgeheimnis ist Wahlgeheimnis. Das erklären wir auch dem alten Herrn, der seine Frau partout nicht allein wählen lassen will. Sie sei nicht mehr ganz klar im Kopf, und überhaupt, sie wisse ja gar nicht, was sie ankreuzen solle, raunt er uns zu. Am Ende zeigt er sich einsichtig und die zwei ziehen nach getanem demokratischem Dienst von dannen.
„Guten Morgen! Der weiße Zettel ist für die Oberbürgermeister*innenwahl, der rote und der grüne sind für den Stadtrat und die Bezirksvertretung. Nein, Sie müssen die Zettel nicht trennen!“
Die überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung bekommen wir zu spüren. Es geht zu wie im Taubenschlag und mittags freue ich mich über eine Stunde Pause. Als ich zurückkomme, ist die Schlange vor der Aula nur unbedeutend kleiner geworden. Unsere Kolleg*innen, die die anderen Wahlbezirke betreuen, haben begonnen, die Wähler*innen direkt bei ihrer Ankunft nach Stimmbezirken aufzuteilen. Wer Glück hat, kann direkt durchmarschieren; wer in einem wahlfreudigen Bezirk wohnt, muss sich gedulden.
Meine Aufgaben an diesem Tag wechseln. Eine Zeit lang händige ich Wahlzettel aus, bis ich abgelöst werde. Dann stehe ich an den Urnen und passe auf, dass kein Zettel in der falschen Urne landet. Als der Andrang immer größer wird, helfe ich beim Zuweisen und Einordnen der Wähler*innen in die richtige Schlange. Ich komme mir vor wie ein Marktschreier: „Ist hier noch jemand aus dem Stimmbezirk mit den Endziffern 05 oder 06? Ja, Sie? Dann kommen Sie bitte einmal mit. Sie können direkt durchgehen zu meinem Kollegen, der sitzt am dritten Tisch rechts!“. Regelmäßig müssen wir auch an das Aufsetzen einer Mund-Nase-Bedeckung erinnern. Trotzdem ist die Grundstimmung gut, die Leute genießen den sommerlichen Tag. Die wenigsten meckern über die Wartezeit. Nach zwei Stunden bin ich heiser und werde abgelöst.
So vergeht der Wahlsonntag und kurz nach 18 Uhr machen wir die Schotten dicht. An eine Verschnaufpause ist nicht zu denken, denn jetzt beginnt die heiße Phase: das Auszählen.
Es wird hektisch, alle sind erschöpft vom langen Tag und wollen nach Hause. Wir schieben die Tische zusammen und öffnen die Urne mit den Stimmzetteln für die Oberbürgermeister*innenwahl. Flott verteilt unser Wahlvorstehender Zettelchen mit den Nummern eins bis 13. Jeder schnappt sich einen Stapel und ordnet sie den Ziffern zu. Daneben gibt es noch zwei weitere Stapel: einen für ungültige Wahlzettel und einen für Kuriositäten. Ungültig sind Wahlzettel ohne oder mit mehreren Kreuzen, zu den Kuriositäten zählen solche, die einen Wählerwillen zeigen, aber etwas anderes als ein Kreuz aufweisen (beispielsweise ein Smiley). Über die Gültigkeit dieser Zettel stimmen wir nachher ab. Dann zählen Zweierteams die Stapel durch. Kommen unterschiedliche Summen heraus, zählt ein Dritter. Dann diktieren wir der Schriftführerin die Zahlen. Sie nickt sie ab und gibt die Ergebnisse telefonisch durch, während wir die Zettel in Umschläge packen und versiegeln. Ganz klar: Ginge es nach unserem Bezirk, wäre eine Stichwahl überflüssig.
„Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“
Winston Chruchill vor dem Unterhaus am 11. November 1947
Wir widmen uns derweil der zweiten Urne. Die Stimmung wird besser, denn ein Ende des langen Tages zeichnet sich ab. „Leute, stopp, wir haben eine Differenz von zwei Stimmen. Die Zahlen ergeben 429, wir müssen aber auf 431 kommen!“, ruft unsere Schriftführerin. Gequält stöhnen wir auf, frustriertes Gemurmel setzt ein. Mittlerweile ist es 20 Uhr. Die ersten Teams beginnen, einzupacken. Warum sind wir so langsam?! Wir einigen uns darauf, dass unsere Schriftführerin und eine Beisitzerin nach dem Fehler suchen, während wir anderen die Wahlzettel für die Bezirksvertretung und den Stadtrat sortieren. Dann die Erleichterung: Inklusive der ungültigen Stimmen beläuft sich die Summe auf 431. Glück gehabt! Schnell beenden wir die Auszählung, diesmal ohne Fehler. Nun muss noch jede*r seine/ihre Unterschrift unter das Wahlergebnis setzen und wir sind fertig. Ein Kollege hat unterdessen nachgeschaut: Eine Stichwahl zeichnet sich ab. Unsere Begeisterung hält sich nach diesem langen Tag in Grenzen. Wir verabschieden uns scherzend voneinander: „Bis in zwei Wochen dann!“.
Zuhause sinke ich erschöpft ins Bett. Hätte ich geahnt, dass dieser Tag einem Marathonlauf in nichts nachstehen würde – ich hätte es trotzdem gemacht. Es war spannend, hinter die Kulissen zu blicken und, hey, um es mit Winston Churchill zu sagen: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Und bis eine bessere gefunden worden ist, stehe ich als Wahlhelferin zur Verfügung. Ist ja auch alles nur halb so schlimm gewesen!
Von Malin Krieger
Beitrag erstellt am: 26.09.2020 um 09:06 Uhr
Letzte Änderung am: 26.09.2020 um 09:06 Uhr