7 Monate nach Hanau

Demonstrationsplakat auf dem Namen stehen, an denen gedacht wird.
Transparent mit den Namen der Opfer vom Anschlag in Hanau. Foto: Özgün Kaya

Am 19. Februar 2020 ermordete in Hanau ein Deutscher neun rassifizierte Menschen. Es ist nicht der erste rassistisch motivierte Anschlag in der Bundesrepublik und urteilend nach dem Verhalten der Behörden, fürchten viele, dass es nicht der letzte gewesen sein wird.

Angesichts seiner Vergangenheit ist es dem deutschen Staat ein großes Anliegen Weltoffenheit und Harmonie nach außen zu tragen; die Bundesrepublik Deutschland, ein buntes und friedliches Land. Es wird groß und laut der Bruch mit Nazi-Deutschland propagiert, während im Bundestag eine Partei sitzt, die das Grauen Nazi-Deutschlands öffentlich kleinredet und zuweilen auch zelebriert. Mit der AfD (Alternative für Deutschland) bekam die organisierte Rechte Deutschlands wieder ein Gesicht. Doch nicht erst seit der AfD gibt es ein Rassismusproblem in diesem Land. Der Körper zu diesem Gesicht marschiert und wütet schon länger. Die nazistische Aggression hat nie aufgehört. Ein wirklicher Bruch fand nicht statt. Wie sonst sind die zahlreichen Nazis in Richter- und Beamtenpositionen, ja sogar als Kanzleramtschef unter Adenauer, die Bundeskanzlerschaft Kiesingers, die dominante Rolle ehemaliger hoher Funktionäre des Nationalsozialismus zur Gründung des Verfassungsschutzes zu erklären?

Die Anschläge und Angriffe in den 90er Jahren in Eberswalde, Hoyerswerda, Hünxe, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Magdeburg, Guben, Eggesin, Solingen, die Mordserie in den frühen 2000ern des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) und die Geheimnisse darum, die der Staat zuerst 120 Jahre unter Verschluss stellen ließ, das Hannibal-Netzwerk in der Bundeswehr, Freital, die Treffen des ehemaligen Verfassungsschutzchefs Hans-Georg Maaßen mit der AfD-Spitze, Drohbriefe aus den Kreisen der hessischen Polizei, die mit NSU 2.0 unterzeichnet sind, der Anschlag in Halle und viele weitere bekannte und unbekannte Fälle von Rechtsextremismus, die dem Anschlag von Hanau vorausgingen  – all diese Vorfälle sind keine tragischen Momente in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, sondern Kontinuität. Es war die hessische Polizei und das hessische Justizwesen, dass in den 1950er und 1960er Jahren Fritz Bauers Kampf um Gerechtigkeit – die Suche und Überführung untergetauchter Nazis – torpedierten. Dieselben Behörden, die heute von den Angehörigen der Opfer vom Anschlag in Hanau angeprangert werden.

Kurz nach dem Anschlag in Hanau war schon Karneval; die Jecken wollten sich das Feiern nicht nehmen lassen. Bald darauf bestimmte das Coronavirus die Schlagzeilen in Deutschland. Die Angehörigen wurden allein gelassen und gründeten die „Initiative 19. Februar“. Betroffene von Rassismus wurden abermals enttäuscht und kamen spontan in Gruppen zusammen, die sich Migrantifa – also migrantische Antifa – nennen. Für den 22. August 2020 lud die „Initiative 19. Februar“ nach Hanau ein, um endlich gemeinsam trauern und demonstrieren zu können. Angesichts der Verbreitung des Coronavirus hatte die „Initiative 19. Februar“ über Wochen mit der Stadt Hanau verhandelt, gearbeitet, ein Hygienekonzept erstellt, die Migrantifagruppen mobilisierten bundesweit, organisierten Busse zur Anreise nach Hanau. Doch es kam anders. Der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Hanau, Claus Kaminsky, ließ am Abend vor dem 22. August die Demonstration in Hanau und die Mobilisierung in die Stadt mit vermeintlichen Blick auf die steigenden Coronazahlen kurzer Hand verbieten. Dies geschah so kurzfristig, dass eine gerichtliche Untersuchung und damit eine mögliche Aufhebung des Verbots, wie sie im Falle der wirren und auch rechten Demonstrationen in Berlin am 28. August 2020 stattfand, nicht möglich war. Über Nacht wurde umorganisiert: Spontan wurde Technik zum Streamen der Kundgebung an 60 Standorten in 30 Städten angeschafft, Busse wurden abgesagt oder nach Frankfurt umgeleitet, wo an zehn Standorten gestreamt wurde. Und so schallte von Hanau in die ganze Bundesrepublik Deutschland: „Wir fordern angemessene Erinnerung, Soziale Gerechtigkeit, lückenlose Aufklärung, politische Konsequenzen!“

Erst kürzlich wurde zufällig die Existenz eines rechtsextremen Netzwerks in der nordrhein-westfälischen Polizei aufgedeckt, auch tauchten durch die Arbeit einer antifaschistischen Recherchegruppe neue Belege für die ehemalige Mitgliedschaft des Polizeigewerkschaftlers Bodo Pfalzgraf in einer rechtsextremen Vereinigung auf. Rechtsextreme fühlen sich weiterhin wohl im deutschen Staat. Doch was macht der Staat? Der christdemokratische Innenminister von Nordrhein-Westfalen Herbert Reul ernannte nun Uwe Reichel-Offermann zum neuen Sonderbeauftragten für rechtsextremistische Tendenzen in der nordrhein-westfälischen Polizei. Jener Uwe Reichel-Offermann, der während des vom NSU verübten Mordes an Mehmet Kubaşık Chef der Observationsabteilung des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen war. Jener Uwe Reichel-Offermann, dem vieles in der Befragung durch den NSU-Ausschuss „nicht erinnerlich“ wäre.

Es zeigt sich, dass in Belangen des Rechtsextremismus kein Vertrauen auf den deutschen Staat gesetzt werden kann. Die Forderungen nach Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen müssen auch nicht als an diesen gerichtet verstanden werden. Sie richten sich an uns Mitglieder dieser Gesellschaft, deutsche und migrantische Mitbürger*innen, fähige antifaschistische Aktivist*innen und die vielen neuen Migrantifagruppen. „Hanau war kein Einzelfall – Widerstand überall!“ soll demnach nicht nur als Demoruf verstanden werden, sondern als die Ankündigung eines wirklichen Bruchs.

Stream der Gedenkkundgebung zum Nachschauen: https://www.youtube.com/watch?v=iiCtmTQ5wqY
Antifaschistische Arbeit zum Nachschauen: https://www.antifainfoblatt.de

Von Özgün Kaya

Beitrag erstellt am: 19.09.2020 um 09:14 Uhr
Letzte Änderung am: 19.09.2020 um 09:14 Uhr

… studiert Philosophie und Geschichte. Am liebsten sieht er Filme.