Die Türkei, die Jud*innen und der Holocaust

Von links nach rechts: Doğan Akhanlı, Karl Rössler, Corrie Guttstadt. Foto: Özgün Kaya

Historikerin und Turkologin Corry Guttstadt und Schriftsteller Doğan Akhanlı über die Rolle des türkischen Staates während des Holocaust.

Am 3. September 2020 lud das NS-Dokumentationszentrum in Köln ein, um über nicht-deutsche Akteure des Holocausts – speziell den türkischen Staat – zu sprechen. Der Titel der Veranstaltung Die Türkei, die Juden und der Holocaust ist Corry Guttstadts Buch entnommen, welches 2008 erstmalig im deutschsprachigen Raum das Verhältnis der damaligen türkischen Regierung zum Holocaust breit untersuchte. Die aufgrund von Corona auf 40 Plätze limitierte und auf zwei Räume aufgeteilte Veranstaltung war schnell voll. Nach einer kurzen Einführung und den Verweis auf die kommenden Afrikafilmtage Köln, die sich, wie auch diese Veranstaltung, mit nicht-deutschen Perspektiven des Holocausts beschäftigt, übergab Moderator Karl Rössel Corry Guttstadt das Wort. In einem einstündigen Vortrag räumte diese mit dem gängigen falschen Bild der türkischen Regierung während des Holocausts auf, aber auch mit den Unwahrheiten über die deutsch-türkische Migrationsgeschichte.

So wies sie entschieden zurück, dass die deutsch-türkische Migrationsgeschichte erst nach dem zweiten Weltkrieg angefangen habe und verwies auf die vielen türkisch-jüdischen und armenischen Einwanderer*innen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1918 und 1935 verließen beispielsweise 30 bis 50 Prozent der jüdischen Bevölkerung der Türkei das Land. Diese Emigration war, so Guttstadt, teilweise vermeintlich natürlichen Ursprungs – man denke an die fortgeschrittene Globalisierung und die daraus resultierenden Möglichkeiten – doch war sie auch dem Erstarken des türkischen Nationalismus geschuldet, welcher im Zuge der türkischen Nationalstaatsgründung 1923 Staatsdoktrin wurde. Im Zuge dessen verbreiteten sich antisemitische Hetze und Gewalt auf den Straßen und in den türkischen Ämtern. Corry Guttstadt berichtete von zahlreichen antisemitischen Pogromen in den 1930er Jahren und Gesetzen, die jüdisches Leben erschwerten. Diese Entwicklung, so Guttstadt, führte 1935 sogar zu einer Verordnung, die die Ausbürgerung jüdischer Türk*innen voranbrachte. 

Während des Holocausts waren 25.000 bis 30.000 jüdische Türk*innen in Europa. Die Flucht vor dem Holocaust in die Türkei stellte angesichts des auch dort grassierenden Antisemitismus keine wirkliche Alternative dar. Zumal die Beziehung zwischen der Türkei und NS-Deutschland zwischen Neutralität und Freundschaft wankte. So wurde beispielsweise das Rettungsschiff Struma mit 769 jüdischen Geflüchteten, das auf seiner Rettungsfahrt nach Palästina am Hafen von Istanbul strandete, vom türkischen Militär nicht empfangen und entladen, sondern wieder ins Schwarze Meer geschleppt, wo es von einem sowjetischen U-Boot unglücklicherweise versenkt wurde. Hieran knüpfte Doğan Akhanlıs Vortrag an. Dieser schrieb nämlich über die Struma einen Roman, sein selbsternanntes Hauptwerk Madonnas letzter Traum, und berichtete in der Veranstaltung über seine neugewonnene Erfahrung um die „transnationale Dimension“ und speziell die türkische Verantwortung während des Holocausts.

Mit all diesen historischen Daten wusste Corry Guttstadt die angebliche Neutralität des türkischen Staates zu dekonstruieren und die Unwahrheiten im gängigen Narrativ der Türkei als Rettungshafen während des Holocausts aufzuklären. Es war trotz Corona organisatorisch ein gelungener, wie auch inhaltlich ein erkenntnisreicher Vortragsabend im NS-Dokumentationszentrum.

Über Corry Guttstadts Arbeit und das Verhalten der türkischen Regierung im Holocaust berichteten wir von der philtrat schon einmal im Rahmen der Filmkritik zu Haymatloz: https://philtrat-koeln.de/2017/12/20/haymatloz-wenn-die-nostalgie-zur-wahrheit-verklaert-wird/

Von Özgün Kaya

Beitrag erstellt am: 09.09.2020 um 14:55 Uhr
Letzte Änderung am: 11.09.2020 um 10:25 Uhr

… studiert Philosophie und Geschichte. Am liebsten sieht er Filme.