DOMiD ist das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft, in der wir leben. Wir sammeln und bewahren über 150.000 Dokumente und Gegenstände, die einen Migrationsbezug aufweisen und bieten für Forschung, Medien und interessierte Öffentlichkeit Rechercheplätze an. Das ist unsere archivarische Funktion. Wir dokumentieren aber auch Phänomene der Migrationsgesellschaft: So haben wir zum Beispiel Filmaufnahmen von privaten Feiern von Einwander*innen oder aber auch Presseausschnitte, die bestimmte Diskurse um Migration in Deutschland dokumentieren. In Führungen, öffentlichen Veranstaltungen, Ausstellungen und Bildungsprojekten machen wir dieses gesammelte Wissen zugänglich. Derzeit arbeiten wir an unserem wichtigsten Projekt: In den kommenden Jahren entwickeln wir ein Migrationsmuseum von bundesweiter Strahlkraft, das circa 2025 in Köln-Kalk eröffnen wird. Die Bundesregierung und das Land NRW haben dafür 44 Millionen Euro in ihre Haushalte eingestellt.
Dazu möchte ich erst einmal erläutern, wie DOMiD entstanden ist. Wir wurden 1990 von Migrant*innen aus der Türkei gegründet. Diese haben sehr schnell erkannt, dass die langjährige Präsenz von Einwander*innen in Deutschland nicht repräsentiert wurde: Weder in Schulbüchern, in Medien geschweige denn in Museen wurde die Kontinuität von Migration dargestellt. Einwanderung wurde aus dem kulturellen Gedächtnis ausgeblendet. Daher fingen unsere Gründer*innen selber an, eine Sammlung zur Geschichte der Migration aufzubauen, damals noch mit dem Schwerpunkt auf die Einwanderung aus der Türkei. In den 2000er Jahren änderte sich der Charakter und das Sammlungsprofil von DOMiD noch einmal grundlegend. Der in Essen gegründete Verein zog nach Köln.
Wir sammeln Dokumente und Objekte, zumeist Alltagsgegenstände, die Migrant*innen mit ihrer Migration nach oder aus Deutschland verbinden. Wir haben dabei einen zeitgeschichtlichen Bezug und fokussieren uns auf die Zeit 1945 bis heute. Die individuelle Geschichte hinter den Objekten ist für uns das Ausschlaggebende, da diese uns etwas verrät über die jeweilige Epoche oder Migrationsform: Wie wurde in dieser Zeit Migration behandelt, kontrolliert, abgewehrt oder als nützlich bewertet? Wie wurde mit den Einwander*innen in der Einreise, bei der Ankunft umgegangen? Wie gestaltete sich das tägliche Leben und Arbeiten? Wir haben also zum einen soziologische und historische Perspektiven, mit denen wir die Objekte befragen. Auf der anderen Seite und für uns zentral: Es sind sehr persönliche Geschichten, die unsere Leihgeber*innen uns anvertrauen. Die persönliche Beziehung und das Vertrauen von und zu unseren Leihgeber*innen ist daher unser wichtigstes Gut. Wenn wir ein Objekt angeboten bekommen, können sich die Leihgebenden entscheiden, ob sie uns dieses schenken oder eine Dauerleihgabe vereinbaren wollen. Der Vorteil, die Objekte bei uns zu deponieren, ist, dass wir konservatorisch einwirken und für eine archivarische Aufbewahrung großer Qualität sorgen können. Statt auf einem Dachboden oder in einem Koffer im Keller zu verwittern, werden diese in unseren Archivräumlichkeiten in Köln-Ehrenfeld verwahrt. In klimatisierten Depots mit einer vorgegebenen Luftfeuchtigkeit können wir dem natürlichen Alterungsprozess von Dokumenten und Objekten etwas Einhalt gebieten.
Das größte Exponat aus unserer Sammlung ist ein Ford-Transit. Für mehrere Generationen von sogenannten „Gastarbeiter*innen“ und ihrer Nachkommen ist dies ein ikonisches Objekt, das für das Pendeln zwischen zwei oder mehreren Heimaten steht. Der Transit war für Türkeireisende beliebt, da er geräumig und erschwinglich war. Ich kenne kaum jemanden aus der zweiten Generation, für den sich damit nicht Kindheitserinnerungen verbinden würden. Jeden Sommer wurde der Wagen bis auf den letzten Platz vollgepackt und häufig Koffer auf dem Dach verschnürt und über mehrere Tage in die Stadt oder das Dorf der Eltern gefahren, wo der Jahresurlaub mit den Verwandten verbracht wurde. Neben den sentimentalen Erinnerungen ließen sich an dem Objekt aber auch andere Erzählungen aufmachen. Zum Beispiel über transnationale Mobilität in einem Europa vor dem Schengen-Abkommen. Auch eine unschöne Geschichte verbindet sich mit der „Gastarbeiter*innen-Route“. Auf der Transitstrecke von Deutschland in die Türkei, dem „Autoput“, wie die Europastraße 5 auch genannt wurde, kamen viele der Reisenden durch Unfälle ums Leben. Neben der hohen Verkehrsfrequenz waren die häufige Überladung und der schlechte Zustand der Autos der „Gastarbeiter*innen“ eine Ursache, auf die mit verstärkten Verkehrssicherheitsmaßnahmen reagiert wurde.
Wir wollen ein Museum entwickeln, das nicht nur das kulturelle Erbe von Millionen Einwander*innen in Deutschland repräsentiert. Wir brauchen darüber hinaus ein Museum, in der wir uns, egal ob mit oder ohne eigener Migrationsgeschichte, als Migrationsgesellschaft erfahren und austauschen können. Das homogene Geschichtsbild Deutschlands wird um ein multiperspektivisches Geschichtsbild ergänzt. Um diese Funktionen erfüllen zu können, haben wir uns für ein Modell von so genannten Konzepträumen entschieden. Statt rein chronologisch zu erzählen oder die verschiedenen migrantischen Communities abzuhandeln, fragen wir uns, wie Migration als Querschnittsthema in unsere Gesellschaft wirkt, man könnte sogar sagen, diese konstituiert. Was macht die Migrationsgesellschaft aus, in der wir alle leben? Wir haben mehrere gesellschaftliche Konstanten identifiziert, die wir in den Konzepträumen behandeln würden wie zum Beispiel Werte, Grenzen, Wandel oder Identität. Diese Konzepträume werden dann bestückt mit unseren Objekten, durch die wir historische Tiefenbohrungen vornehmen. Insgesamt lässt sich sagen, wir gehen von der Gegenwart aus und führen die Besucher*innen multiperspektivisch und dialogisch. Da wir das Museum aber auch sehr partizipativ entwickeln wollen in den nächsten Jahren, wird dieses Grundkonzept sicherlich noch einige Veränderungen erfahren.
Identitäre Zuschreibungen wie „die Migrant*innen“ versus „wir Deutsche“ ziehen in der Tat häufig eine künstliche Trennlinie, die unsere Gesellschaft spaltet. Wir möchten ein Geschichtsbild entwickeln und damit letztlich auch ein Verständnis unserer Gesellschaft, das alle inkludiert und Migration als eine gestaltende Kraft von Gesellschaft anerkennt. Wir müssen uns auf die Reise begeben zu fragen: Was macht uns als Gesellschaft aus, in welcher Gesellschaft wollen wir leben und gelingt es uns, ein Verständnis eines „neuen Wir“ jenseits nationaler Herkunftsregionen zu entwickeln?
Ich möchte keine Empfehlungen aussprechen, sondern darlegen, welchen Beitrag wir als DOMiD leisten können. Wenn wir uns ansehen, dass in westdeutschen Großstädten jedes zweite Neugeborene einen so genannten Migrationshintergrund hat, muss man festhalten, dass die „Gesellschaft der Vielen“ doch bereits in weiten Teilen eine unumkehrbare Realität ist. Welchen Nutzen kann es haben in „einheimisch“ und „fremd“ zu unterteilen? Wir leben in einer postmigrantischen Gesellschaft. Das bedeutet aber auch, dass wir unsere Energien weniger in die Abwehr von Migration, sondern in die Gestaltung der Migrationsgesellschaft legen müssen. Dazu ist ein multiperspektivisches Geschichtsbild ein Baustein. Repräsentation und das „Recht auf Rechte“ ist ein anderer Faktor. Wir erleben derzeit eine Konjunktur rassistischen Denkens und Rechtspopulist*innen versuchen auch im Kultur- und Museumsbereich einzuwirken. Deswegen möchten wir einen offenen, aufklärenden, kritischen Dialog über rechte Strategien führen. Aufklärung ist wichtig, erfährt aber auch ihre Grenzen. Dem harten Kern, die an ihrem stereotypen und rassistischen Weltbild festhalten wollen, müssen wir eine entschiedene Haltung als Demokrat*innen entgegensetzen: Bis hier hin und nicht weiter!
Wir empfehlen den Besuch unseres virtuellen Migrationsmuseums, welches das Thema Migration im virtuellen Raum veranschaulicht. Die Besucher*innen des Museums bewegen sich durch eine fiktive Stadtlandschaft. In den unterschiedlichen Gebäuden können sie sich über Migration in Verbindung mit verschiedenen Themen wie Arbeit, Kultur oder Bildung informieren. Darüber hinaus reisen sie durch die Zeit, indem sie zwischen drei Epochen wechseln können. Es ist als App downloadbar unter: www.virtuelles-migrationsmuseum.org und ist rund um die Uhr sowie kostenfrei verfügbar für viele Endgeräte.
Von Klara Linke
Beitrag erstellt am: 19.08.2020 um 15:28 Uhr
Letzte Änderung am: 21.08.2020 um 13:55 Uhr
Über Klara Linke
… studiert Englisch, romanische Sprachen und Komparatistik. Nach dem Abschluss möchte sie gerne im Journalismus tätig sein und mehr über die Fotografie lernen. In der Freizeit versucht sie sich an neuen Backrezepten oder lauscht den Stimmen von Kawelke und Golod im Machiavelli Podcast.