Der Liberale als stolze Witzfigur

scharze Schrift F**** euch alle
Mündigkeit mit Sternchen. Foto: Özgün Kaya

WELT-Chef Ulf Poschardt erklärt die Welt.

Der Liberale im Rechtsdrift

Was ist schon zu erwarten, wenn ein Neoliberaler ein Buch zum Thema Mündigkeit schreibt? Es war abzusehen, dass das Buch ausgehend von der liberalen Illusion eines alles bestimmenden Grundkonflikts von Individuum und Gesellschaft beziehungsweise Kollektiv gegen alles Soziale schießt und auf den Spuren von Hayek allem demokratischen skeptisch gegenübersteht. Es ist Usus, dass der reiche Chefredakteur der an Bedeutung verlierenden liberal-konservativen Zeitung WELT einen vermeintlich vorherrschenden linken und grünen Populismus in Deutschland sieht. Belege dafür seien die Konzepte von Diversity und Political Correctness. Das hält Poschardt jedoch nicht davon ab, Merkels zweitem Kabinett lobend einen Diversityschein auszustellen: „mit einer Frau als Kanzlerin (Tochter eines Kommunisten, kinderlos, Naturwissenschaftlerin), einem Schatzkanzler im Rollstuhl, einem vietnamesischstämmigen Flüchtlingskind als Wirtschaftsminister.“ Er nimmt sich seine Argumente, wie es ihm beliebt. Aber was kann man schon sagen, wenn Poschardt die seinige Rolle des „mündigen Liberalen“ mit der einer Witzfigur gleichsetzt, dessen Aufgabe das Trollen sei? Das nennt er aber nicht Trollen, sondern „Drift“ und fügt x Rennsport-Anekdoten und -Analogien hinzu. Für seine Drifts beziehungsweise Entgleisungen ist Poschardt längst bekannt. So setzt der selbsternannte mündige liberale Intellektuelle auch mal die angesichts der asozialen Wohnungspolitik entstandene Forderung nach Enteignung großer Immobilienkonzerne mit Nazimethoden gleich. Da hätte die AfD-Apologetin Erika „Die Nazis waren eine linke Partei“ Steinbach gleich das Vorwort zu seinem Buch schreiben können.

Der Liberale als Antidemokrat

Doch schlimmer geht immer im Elfenbeinturm „Zu Poschardt“! Er legt wirklich eine außerordentliche Hirnakrobatik hin, wenn er mit der libertären Ayn Rand und dem Liberalismuskritiker Adorno gegen das vermeintliche Diktat des Kollektivs anschreibt. Adorno, der den trügerischen Individualismus im Kapitalismus anprangerte und die Nähe des Faschismus zum Kapitalismus herausarbeitete und Ayn Rand, die von uneingeschränktem Kapitalismus faselte, gehen in Poschardts Kopf Hand in Hand. Aber schlimmer geht immer im Elfenbeinturm „Zu Poschardt“! Auch der Anarchismus, dessen Kernforderung die sofortige Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln ist, wird zum Geistesbruder des Kapitalismussympathisanten ernannt. Es ist wirr. Jeder muss für Poschardt hinhalten, wenn er mal nicht weiterweiß. Sogar den großen radikalen Filmemacher und überzeugten Linken Jean-Luc Godard missbraucht er und sinniert über dessen Montagemethode, als sei sie nichts weiter als ein schön anzusehendes Mosaik. In Godards jüngstem Meisterwerk Bildbuch, in welchem er die ZuschauerInnen durch eine Art Spiegelkabinett der kapitalistischen Schrecken jagt und zum Schluss gar zur Revolution ausruft, sieht Poschardt ein „Bilderbad“ ohne konsistentes Weltbild. Es ist zum Haare raufen wie Poschardt hier die Wirklichkeit nach seinem eigenen Belieben zusammenstellt und Argumente konstruiert, deren Prämissen schon so absurd sind, dass die Existenz einer Konklusion allen Gesetzen widerspricht. Aber von Gesetzen hält Poschardt ohnehin nicht viel, denn „Mündigkeit wächst in Zonen der Verführung und Reichsfreiheit“. Demokratische Strukturen tut er mit dem Vorwurf der „Einschränkung von Freiheitsräumen“ ab und verweist auf den Türsteher eines Nachtclubs, der auch ohne demokratische Kontrolle den Eintritt zum angeblichen Mündigkeitsraum Nachtclub nach eigenem Belieben organisiert – in Poschardts unglaublichen Worten: „Der Türsteher vergibt die Mündigkeitshouseaufgaben.“

Der Liberale und seine Faszination für Unterdrückung

Weiter beklagt Poschardt eine angebliche Abwesenheit linken Intellektuellentums. Einsam in seinem Elfenbeinturm ruft er nach GegnerInnen, die es mit ihm aufnehmen könnten. Nun, vielleicht ist es nicht das Fehlen linken Intellektuellentums im Debattenraum Journalismus, sondern das Fehlen von Intellektuellentum (gar Intelligenz?) bei Poschardt, welches seine Einsamkeit erklären würde. Allen Ernstes behauptet er, dass es sich bei der neoliberalen Doktrin „work hard, play hard“ um Dialektik handle. Entgegen seiner Selbstwahrnehmung bewegt sich Poschardt hiermit weniger auf dem Level eines Slavoj Zizek, sondern mehr auf dem eines Jordan Peterson. Wie auch Peterson ignoriert Poschardt die Ausbeutung der kapitalistischen Produktionsweise oder heißt die Konsequenzen dieser gar gut und entwickelt eine abartige Faszination für sogenannte „Aufsteiger“. So spricht er beispielsweise von MigrantInnen und AufsteigerInnen als die „beiden wichtigsten Stimulanzien von Wohlstandsgesellschaften“. Oder auch: „Der Aufsteiger ist die wichtigste Ressource für ehrgeizige Gesellschaften mündiger Bürger. Wer von unten kommt und sich nach oben kämpft, oder zumindest in die Mitte, hat mehr gesehen und erfahren als jene, die immer schon dort waren, wo sie sind.“ Ein ganz toller migrantischer „Aufsteiger“ ist zum Beispiel Cem Özdemir, der jeder Aufdeckung von Rechtsextremismus in Verfassungsschutz, Bundeswehr und Polizei zum Trotz ein Lächeln findet oder während eines WELT-Interviews zu der gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen der Stuttgarter Polizei und einigen Jugendlichen vom 20.6.2020 einen aufgebrachten älteren Herren bittet die Fresse zu halten, um ihn anschließend darauf hinzuweisen, dass das hier Deutschland sei. Schönes Deutschland! Poschardt hält migrantische „Aufsteiger“ nicht nur für Vorzeigefiguren für die Sache des Kapitalismus, sondern ein Stück weit auch prädestiniert für Erfolg in dieser Gesellschaft: „Im Ideal ist die Integration in eine fremde Kultur und Gesellschaft eine Art Mündigkeitsmarathon. Deswegen ist es kein Zufall, dass wichtige Denker des Mündigen wie Adorno, Hannah Arendt oder Ayn Rand eine Migrationsbiographie haben.“ Da müsste schnell jemand den von der Polizei angegriffenen jungen Black Lives Matter-DemonstrantInnen aus Berlin sagen, dass ihr Abitur mit jedem Knüppelschlag besser werden könnte. So mag der Liberale wohl seine migrantischen MitbürgerInnen: vor der Linse hofiert, wenn sie ihm zustimmen oder mundtot und verprügelt, wenn dem nicht so ist.

Der Liberale als Propagandist

Die in der kapitalistischen Produktionsweise entstandene Entfremdung der Menschen, also die Wirkung der Produktionsweise über die Produktion auf das Denken, Fühlen und Leben der Menschen, historisiert Poschardt auf die Zeit vor der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft. Eine strikte Hierarchie des Betriebs verneint Poschardt mit Blick auf vermeintlich innovative Workspaces, die die ArbeiterInnen nicht nur beschäftigen, sondern auch bespaßen, ja mündig machen: „Der Unternehmer oder Manager kann erfolgreich und effizient nur sein, wenn er in der Lage ist, seine Mitarbeiter mündig zu machen.“ Die Mündigmachung, die er meint, ist allerdings die Gefügigmachung vor dem ökonomischen Primat. Selbstredend lobt er auch gerne Gerhard Schröders Hartz-Reform, die den Sozialstaat aushöhlte, den größten Billiglohnsektor Europas schaffte und damit Millionen in die Armut trieb. Würde Poschardt den durch die Hartz-Reform eingeleiteten Sozialstaatsabbau nicht leugnen [„Schröders Hartz-Reform haben eher symbolisch als real den Sozialstaat zurückgebaut.“], würde er diesen sicher als Chance der Mündigmachung von Million schönreden.

Fazit

Was soll man also jemandem sagen, der die Entgleisung zur Methode erhebt, nichts und niemanden – sich selbst inbegriffen – ernst nimmt, selbstgefällig über alles urteilt, unschlüssig argumentiert und sich dann über fehlende DiskussionspartnerInnen beschwert? Man ist sprachlos. Nicht weil Poschardts Denken irgendwie visionär den Rahmen sprengen oder aus dem Tellerrand fallen würde, sondern weil kein Denken vorhanden ist. Zum Schluss des Buches heißt es: „Ganz normale Feiglinge sollten die Finger davon lassen.“ Nein, es hat nichts mit Feigheit zutun, wenn man sich seiner Gehirnzellen sicher sein will.

Ulf Poschardt: Mündig.
Klett-Cotta, 271 Seiten, 20 Euro
ISBN:978-3-608-98244-2

Von Özgün Kaya

Beitrag erstellt am: 24.06.2020 um 10:33 Uhr
Letzte Änderung am: 24.06.2020 um 10:33 Uhr

… studiert Philosophie und Geschichte. Am liebsten sieht er Filme.