Karl Marx auf 100 Seiten gepresst

kleine und große Marx-Bücher
"Karl Marx 100 Seiten" zwischen den bekannten großen, blauen Marx-Engels-Werken und diversen anderen Editionen. Foto: Özgün Kaya

Was hat sich Dietmar Dath nur dabei gedacht? Wohl, dass er es besser mache als so manch andere Person, die Reclam gefragt haben könnte.

Kein Marx ohne Engels

Wer von Marx spricht, darf Engels nicht verschweigen. Das weiß auch Dietmar Dath und beginnt die erste Seite des hundertseitigen Buches zu Marx mit tadelnden Worten über den gescheiten Revolutionär und Freund Friedrich Engels. Doch Dath wirft keine hohlen Worte, keinen Lob, keine Namen und Daten in den Raum, um sich im Prestige des Genannten zu schmücken, sondern verbindet die vielen kleinen historischen Eckdaten und großen Namen zu einem kompakten Rahmen. Ein dünner Rahmen, der vor lauter lesenswertem Inhalt beinahe zu platzen droht. 

Ein echter Mensch

Es kommt jedoch nicht zum großen Knall, im Gegenteil: ziemlich gemächlich führt Dath seine LeserInnen, anhand von Marx‘ Werdegang, durch die großen Fragen und Aufgaben des wissenschaftlichen Sozialismus à la Marx und Engels. Er knüpft gar Verbindungen zu gegenwärtigen politischen Erscheinungen. Denn Marx‘ Gedanken hängen nicht in den Wolken, sondern stehen auf festem Boden. Das heißt, Marx ist stets bemüht die Praxis und die Theorie gleichsam zu erarbeiten: sei es nun in der Funktion eines Politikers (kein Berufspolitiker), Journalisten, Philosophen oder Ökonomen. Der Autor tut daher richtig daran Marx‘ Beteiligung im „Bund der Kommunisten“ und der „Ersten internationalen Arbeiterassoziation“, sowie seine bahnbrechenden Schriften über den Nachgang der Französischen Revolution und die Pariser Kommune besonders hervorzuheben. Ebenso besonders, ist, dass Dath die aufschlussreiche Korrespondenz zwischen Karl Marx und Abraham Lincoln erwähnt. Auch dieser wird in der heutigen Zeit bedauerlicherweise meist als Phänomen statt als echter Mensch behandelt. 

Den Bogen spannen

Das übergeordnete Thema des Buches ist Wut, genauer: die Unterscheidung zwischen kalter und heißer Wut. Heiße Wut sei eine blinde, affektive Reaktion auf ein als unrecht empfundenes Geschehen, wohingegen kalte Wut zwar ebenso auf Unrecht reagiere, jedoch dies bedacht tue. Nicht nur spricht Dath Marx die Beherrschung kalter Wut zu, sondern macht eine Tradition der Beherrschung kalter Wut aus. Diese sieht er auch bei dem schwarzen Bürgerrechtler des 19. Jahrhunderts Frederick Douglas, sowie der Revolutionärin des frühen 20. Jahrhunderts Rosa Luxemburg. Alle drei haben, so Dath, die Widersprüche ihrer Gesellschaft und Zeit verstanden und aufzulösen versucht. Diese übergeordnete kalte Wut sollte jedoch nicht als eine künstliche Konstruktion von Dath verstanden werden, sondern als das Ergebnis eines retrospektiven Blicks auf ausgemachte Schlüsselmomente des politischen Widerstands im Kapitalismus. Schon diese Passage rechtfertigt einen Kauf und eine intensive Lektüre. 

Das ABC des wissenschaftlichen Sozialismus

Daths Sprache und seine Gedankenverknüpfungen sind hervorragend zu lesen. Einschlägige Begriffe der marxschen Arbeit wie beispielsweise Proletariat, Dialektik, Kapital, Wert und Arbeitskraft werden von Dath dudenartig definiert und in Kontext gesetzt. Gleiches geschieht mit der Studienzeit von Marx und dessen Auseinandersetzung mit Hegel und den sogenannten Links- und Rechtshegelianern, sowie der innerlinken Auseinandersetzung von Anarchisten und Sozialisten. Es ist selbstverständlich, dass Dath das historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus nicht ersetzen kann und möchte, sondern seinen LeserInnen einen ersten Einblick in die Arbeit von Marx geben will. Teilweise gelingt dies und teilweise gelingt dies leider nicht. Das liegt jedoch in der Natur eines 100-Seiten-dünnen Büchleins und nicht an Dietmar Dath.

Fazit

Die Reihe Reclam. 100 Seiten ist sehr vielfältig und soll in erster Linie verschiedene Klientel ansprechen und ordentlichen Gewinn erzielen. Dass Marx nun warenförmig darin Platz einnimmt, mag dem einen oder anderen Linken vielleicht missfallen. Wut ist an dieser Stelle nachvollziehbar, aber dann bitte kalte Wut, die der Lektüre nicht im Wege stehen sollte. Denn Dietmar Dath, der auch als Feuilletonist und Schriftsteller in Erscheinung tritt, hat mit diesem kleinen, dünnen Büchlein all jenen einen Gefallen getan, die sich schon immer mit Marx und der sozialistischen Theorie und dessen historischen Praxis auseinandersetzen wollten, aber sich angesichts der bereits vorhandenen massiven Menge an Schriften von und über Marx nicht getraut haben. 

Karl Marx. 100 Seiten ist als Einstieg zu verstehen, eine intensive Lektüre ist empfohlen und die Lektüretipps zum Schluss des Büchleins sind daher nicht zu vernachlässigen.

Dietmar Dath: Karl Marx. 100 Seiten. Reclam 2018, 100 Seiten, 10 Euro.

ISBN: 978-3-15-020454-2

Von Özgün Kaya

Beitrag erstellt am: 16.12.2019 um 15:12 Uhr
Letzte Änderung am: 19.05.2020 um 20:11 Uhr

… studiert Philosophie und Geschichte. Am liebsten sieht er Filme.