Häufig wird Parkour mit dem Begriff Trendsport in Verbindung gebracht. Medien-Beiträge lassen uns an waghalsige Sprünge von Haus zu Haus denken und betonen Parkour als bloßen Extremsport, der vor allem sensationell aussehen soll. Doch spektakuläre Salti sind anderen Bewegungsarten vorbehalten. Beim Ausführen von Parkour geht es vielmehr darum, Schnelligkeit, Kraft und Eleganz zu kombinieren.
Und Trend? Klingt beinahe nach einer Modeerscheinung, die bald wieder vergeht. Das Gegenteil aber ist der Fall: Denn Parkour-Praktizierende, sogenannte Traceure, trainieren so, dass sie die Sportart bis ins hohe Alter ausüben können. Was in vielen Beiträgen oder Videos ebenfalls nicht zu sehen ist: Die Bewegungsabfolgen, die so leicht und mühelos erscheinen, sind Ergebnis eines langen, intensiven Trainings. Parkour schließt dabei spezifische Ideale und Werte ein, die für die Sportart von großer Bedeutung sind.
Parkour ist eine kunstvolle Art der Fortbewegung. Hierbei geht es darum, Hindernisse, wie Geländer oder Mauern, nicht zu umgehen, sondern sie auf eine möglichst effiziente und manchmal auch kreative Art und Weise zu überwinden. So soll eine flüssige und natürliche Bewegung in der Umgebung entstehen. Beim Ausführen dieser Bewegungen wird dabei im Prinzip der gesamte Körper miteinbezogen. Egal, ob die Bewegungsfolge aus Laufen, Springen, Klettern, Hangeln, Krabbeln oder Balancieren besteht – von Finger bis Fußspitze wird dabei fast alles mittrainiert.
Eine entscheidende Rolle spielt, dass Parkour wettkampffrei ist. „Während es bei vielen anderen Sportarten darum geht, besser zu sein als jemand anderes, mache ich Parkour nur für mich selbst. Es gibt keinen Vergleich, keine Bewertung“, erklärt Parkour-Trainer Giulio Hesse. Jeder Traceur arbeitet nur für sich und ohne Druck, eine kompetitive Leistung zu erbringen, auf seine eigenen, selbstgesetzten Ziele hin. Dass Traceure in Gruppen trainieren, wird damit nicht ausgeschlossen: Sie bewegen sich gerne gemeinsam, unterstützen, motivieren und inspirieren sich untereinander zu neuen Bewegungsmustern. Wettbewerbspartner eines Traceurs bleibt jedoch nur er selbst.
Natürlich gebe es einige Grundtechniken und -bewegungen, es gehe aber eben auch darum, den eigenen Weg zu finden, macht Giulio deutlich: „Es bedeutet, für sich festzulegen, was man gerne lernen möchte und dann die nötigen Voraussetzungen zu schaffen – egal ob es technische, physische oder mentale sind“. Dabei zu schnell, zu viel von sich zu erwarten wäre allerdings eine Denkweise, die hemmt. Als Traceur und gerade als EinsteigerIn ist es entscheidend, eine geduldige Haltung einzunehmen und Etappenziele festzulegen.
Damit einher geht der für Parkour sehr wichtige Aspekt der Selbsteinschätzung. Ein Traceur setzt sich mit seinem Körper im Raum auseinander und lernt mit gegebenen Hindernissen umzugehen. Er arbeitet daran, seine Körperspannung und Bewegungen besser zu koordinieren, seine Ängste und Grenzen zu verstehen und zu kontrollieren. Jede Situation wird wahrgenommen, jeder Sprung abgeschätzt. Vertrauen und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber sind daher sehr wichtig – auch, um Schwächen und Stärken zu erkennen. Durch das Praktizieren von Parkour, lernen sich die SportlerInnen auf diese Weise ein Stück weit besser kennen.
Wer Parkour trainiert, der merkt, dass sich der Blick für Fortbewegungsmöglichkeiten erweitert. Ein Traceur löst sich von den gewohnten, vorgegebenen Wegen, auf denen wir uns ansonsten durch die Stadt bewegen. So inspiriert jeder Ort zu anderen Bewegungskombinationen, die Architektur wird aufs Neue entdeckt und aktiv genutzt. Wo zuvor ein Geländer oder Steinblock „herumstand“, erschließt sich für den Traceur ein neuer Raum voll spannender Hindernisse, die es zu verbinden gilt.
„Es hat etwas von Fliegen, weil man weit springt, lange in der Luft sein kann und sich dabei frei wie ein Vogel fühlt“, schwärmt Giulio. Parkour weckt schöne Assoziationen, „geht aber auch immer mit Grenzen einher“, betont er. Meist sind es individuelle Grenzen, an denen gearbeitet wird. Zu den offensichtlich physischen Grenzen gehört beispielsweise, wie viel Kraft, Spannung, Körperbewusstsein oder Erfahrung jemand hat. Es gibt aber auch mentale Grenzen im Parkour. Höhenangst sei ein klassisches Beispiel, weiß der Parkour-Trainer aus Erfahrung: „Als Traceur muss ich mich an die Höhe gewöhnen und an die eigenen Grenzen herantasten, um diese Schritt für Schritt zu verschieben“.
Eine weitere Grenze ist in gewisser Weise die des Gesetzes, etwa der „Spot“, an dem trainiert wird. „Wir trainieren nicht auf privaten Grundstücken, sondern sind im öffentlichen Raum unterwegs – dort, wo sich jeder aufhalten darf“, erklärt Giulio.
Parkour-AnhängerInnen legen sehr viel Wert auf Verantwortungsbewusstsein. Respekt und Verantwortung gegenüber dem eigenen Körper sind dabei gleichermaßen wichtig, wie der Respekt gegenüber der Gruppe und den Mitmenschen. „Wir achten beispielsweise stets auf unsere Lauf- und Sprungwege“, so Giulio.
Respekt bringen Traceure auch der Umgebung entgegen, in der sie trainieren. Leave no trace, eine Initiative der Parkour-Community, soll auch gegenüber der Öffentlichkeit deutlich machen: Traceure trainieren mit dem Grundsatz, Orte mindestens so sauber zu verlassen, wie sie diese vorgefunden haben.
Das öffentliche Bewusstsein für Parkour verstärkte sich seit seinen Ursprüngen in den 80er-Jahren vor allem durch Filmbeiträge, Youtube und Foren. Seitdem bilden sich in Städten auf der ganzen Welt unzählige Parkour-Gemeinschaften. Diese Communities seien lokal und regional, aber auch international sehr vernetzt, verrät uns Giulio: „Seit ich Parkour trainiere, habe ich Freunde in ganz Europa, die ich regelmäßig besuche, um mit ihnen Parkour zu praktizieren.“
Die Traceure schätzen den Zusammenhalt der „Parkour-Familie“ sehr, ihr Kontakt geht häufig über das eigentliche Training hinaus. Regelmäßig planen Giulio und sein Freundeskreis den gemeinsamen Urlaub nach Fontainebleau, dessen Waldgebiet als Pilgerstätte für Traceure gilt. Hier tauschen sie sich aus, trainieren zusammen und genießen die Natur. Seien es private Verabredungen, größere Jams oder Workshops – das gemeinsame Training führt die Traceure als internationale Gemeinschaft zusammen, es schafft ein kollektives Bewusstsein und Identität.
„Die Bewegung, das Grazile hat mich ästhetisch sehr angesprochen“, erzählt Giulio. Er habe es unbedingt selbst ausprobieren müssen, die Freiheit in der Bewegung begeisterte ihn. Während Ablauf und Bewegung in vielen Disziplinen nach definierten Standards auszuführen sind, stellt Parkour das Gegenteil einer Normierung dar. Parkour bedeutet nicht, den schnellsten Weg von A nach B zu nehmen, sondern eine Bewegungsaneinanderreihung zu kreieren. Genau hier liegen die Eigenleistung und der kreative Moment.
Die Schönheit der Bewegung fasziniert, steht jedoch nicht an erster Stelle. „Ich trainiere Parkour nicht so, dass meine Bewegungen schön aussehen – die Herausforderung diese zu meistern und der Spaß, daran zu wachsen, stehen eindeutig im Mittelpunkt“, wird durch Giulio klar. Auch das „Flow-Empfinden“ betont Giulio: „Sich im Moment verlieren, die Zeit vergessen und an nichts Anderes mehr denken – das ist eine schöne Empfindung und auch ein Grund, warum ich Parkour mache … weil es sich einfach gut anfühlt.“
Neugierig? Giulio Hesse ist einer von 10 qualifizierten Trainern des Vereins Parkour Movement e. V. Schaut vorbei! Das umfangreiche Trainingsangebot findet ihr unter: http://parkour-movement.com
Von Laurence Boms
Beitrag erstellt am: 20.06.2019 um 09:44 Uhr
Letzte Änderung am: 09.11.2019 um 12:28 Uhr