(Über-)Leben in Erinnerungen

Filmplakat
Foto: Rapid Eye Movies

Die Lage der arbeitenden Klasse in England Reloaded

Richard Billingham, bis dato Fotograf, tritt mit Ray & Liz erstmalig als Regisseur eines Spielfilms in Erscheinung. Wie in vielen seiner Fotografien, ist auch im Film seine Familie das Objekt, das die Kameralinse einfängt. Wir sehen einen vermeintlich autobiographischen Film, der aber eigentlich keiner sein möchte und uns ZuschauerInnen auch zeigt, dass er keiner ist. Denn erzählt wird zwar in Episoden die Geschichte der Familie Billingham, diese ist aber stellvertretend für all jene, denen die Kulturindustrie in Zeiten von Spektakel und computergeneriertem Exzess immer weniger Platz einräumt: die Marginalisierten, die von der Gesellschaft Verstoßenen und Missachteten, die Besitzlosen, mitunter: die Arbeiterklasse.

Doch muss man es auch so sehen: Gerade weil in den letzten zehn Jahren die Produktion von besagtem Spektakel – gemeint sind die Action-Blockbuster à la Marvel – solch unvorstellbare Dimension angenommen hat, entsteht die Notwendigkeit, in den filmischen Widerstand zu gehen. Daraus entspringen eben Filme wie Ken Loachs I, Daniel Blake, Sean Bakers The Florida Project und nun Richard Billinghams Ray & Liz.

Die titelgebenden Ray und Liz gehören jener Gruppe an, die Friedrich Engels 1845 in der ersten umfassenden Untersuchung der kapitalistischen Realität Die Lage der arbeitenden Klasse in England als sogenannte „überzählige Bevölkerung“ beziehungsweise „Überflüssige“ bezeichnete. Menschen, für die der Arbeitsmarkt kein Los übrig hat. Jene, die von der Hand zum Mund oder von Sozialleistungen des Staates leben müssen, wobei sich beides nicht ausschließt, sich sogar oft bedingt. Diese Menschen leben unter widrigen Umständen ein auferlegtes beschränktes Leben. Nicht nur die Handlung des Films, auch das 4:3-Format des Bildes lässt uns ZuschauerInnen diese auferlegten Grenzen spüren. In den ersten Szenen sehen wir Ray, einen alten, gebrechlichen Mann, der sich langsam aus dem Bett hebt, gekleidet in Alltagsklamotten, in welchen er wohl zuvor einschlief. Er ist alleine, umringt von Fliegen und einer alten, vergilbten Tapete. In der nächsten Szene schläft Ray, sein Tag ist rum, es ist nichts passiert. Dies alles hält die Kamera mal still, mal in kurzen, ruhigen Fahrten, mal in Nahaufnahmen fest. Ein neuer Tag bricht an und Ray steht in den bekannten Klamotten auf. Ein gewisser Sid besucht ihn, um ihm umgefüllten Alkohol in PET-Flaschen mitzubringen und kümmert sich auch um sonstige Angelegenheiten, welchen Ray in seinem derzeitigen Eremitendasein abgeschworen hat. Der Film will deutlich sagen, dass dieser Mann allmählich vereinsamt und nichts mehr besitzt. Ray fragt sich wiederum, warum das so ist; er schwelgt in Erinnerungen, da ihm sonst nichts bleibt. Diese Erinnerungen sind die anfangs angesprochenen Episoden.

In den Episoden zeigt Regisseur Richard Billingham verschiedene Stationen seiner Familie. Sich selbst, auftretend einmal als Kleinkind und das andere Mal als Jugendlicher, entzieht er aber weitgehend dem Blickfeld der Kamera. Auseinandersetzungen zwischen Ray und Liz, die Umstände ihrer Lebenswelt, besonders dessen Auswirkungen auf die Schwachen und Hilfebdefürtigen, in Form des jüngstes Familienmitglieds Jason und des geistig-behinderten Onkels Lawrence, widmet sich der Film. Die soziale Gewalt – also die gesellschaftliche Isolation und die Armut – dem die Familie ausgeliefert ist, schlägt sich im Laufe des Filmes mehrfach in physische Gewalt nieder. Auch treibt es Ray in den Alkoholismus. Doch wird kein pöbelnder, aggressiver Patriarch skizziert, zumal das auf Ray nicht zutrifft. Es wird ein müder, überforderter Mensch gezeigt, dem nichts weiter im Sinn steht, als zu überleben. Billingham lässt nicht zu, dass wir ZuschauerInnen in diesem Moment über Ray urteilen und moralisieren. Näher liegt es doch, angesichts Rays Alkoholismus, sich die richtigen Fragen zu stellen: „Wie will die Gesellschaft, die ihn in eine Lage versetzt, in der er fast notwendig ein Säufer werden muss, die ihn in allem vernachlässigt und verwildern lässt – wie will sie ihn hernach verklagen, wenn er wirklich ein Trunkenbold wird?“ (S. 323).

Überleben heißt konsumieren können. Denn, da alles (Wasser, Strom, Kleidung, Nahrung) Konsummittel ist, braucht es Geld. So ist Geld ein wiederholt auftauchendes Motiv im Film. In einer Szene hören Ray und Liz im Amateurfunkradio Menschen zu, die sich über einen angeblichen Lottogewinn von wiederum anderen Menschen unterhalten, in einer anderen ist es der Geldwert des gebunkerten Alkoholbestandes über den diskutiert wird. Doch immer ist das Geld bei den Billinghams knapp. Die Macht, die Geld besitzt, vielmehr die Ohnmacht der Geldlosen wird in einer Szene besonders deutlich kenntlich gemacht: Aufgrund überfälliger Stromrechnungen wird der Familie der Strom abgestellt. Das hat zum einen die Folge, dass es in der Wohnung eisig kalt wird und die Kinder außerhalb übernachten müssen, was im Verlauf des Films nicht ohne Konsequenzen bleibt. Eine zweite, direkt spürbare Folge ist, dass Liz bei einem ominösen Bekannten nach Geld fragen muss. Über ein Münztelefon, das sie mit den letzten Geldresten bedient, ruft sie diesen an. Den Hörer nimmt dessen Ehefrau ab und lässt Liz ohne weites Umschweifen wissen, dass sie nichts von ihrem Geld und ihren Problemen wisse und die Polizei rufen werde, sollte Liz ein weiteres Mal anrufen. Der Schock und die Verzweiflung stehen Liz ins Gesicht geschrieben. Es ist die Ignoranz wie auch Arroganz des Bürgertums und die Angst vor der Polizei als wortwörtliche exekutive Gewalt, die Liz und uns ZuschauerInnen in diesem Moment die Sprache verschlägt.

Richard Billingham zeigt keine Elendsgeschichte, um sie dem Voyeurismus auszuliefern, sondern zeigt das Leben, wie er es erlebt hat: nackt, ungeschönt und bisweilen absurd. Weil seine Familie und Millionen andere unter den unwürdigen Umständen, wie sie im Film gezeigt werden, leben und die Gesellschaft davon erfahren muss; Sodass sie begreift oder zumindest zu verstehen versucht, warum solche „überflüssigen“ Menschen so sind, wie sie sind. Ray & Liz folgt demselben Ziel, welchem 1845 Engels‘ Die Lage der arbeitenden Klasse in England folgte: die Lebensrealität derjenigen festzuhalten, die unter der bestehenden Ordnung leiden und dadurch den RezipientInnen ermöglichen aus der gewonnenen Information für sich zu schließen, was längst Realität ist. Nämlich dass „wenn aber die Gesellschaft […] Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können; wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muss; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, dass diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen lässt – so ist das ebenso gut Mord wie die Tat des Einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibt Mord.“ (S. 324 – 325).

Verwendete Literatur:
Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Marx-Engels-Werke Band 2, 1962.

Filmtitel: RAY & LIZ
Regisseur: Richard Billingham
Starttermin: 9.5.2019
Dauer: 110 Min
Genre: Drama

Von Özgün Kaya

Beitrag erstellt am: 07.05.2019 um 17:30 Uhr
Letzte Änderung am: 09.11.2019 um 13:09 Uhr

… studiert Philosophie und Geschichte. Am liebsten sieht er Filme.