Juli Zeh nimmt uns in ihrem Roman mit nach Unterleuten, einem kleinen Dorf irgendwo in Brandenburg. Umgeben von einem Naturschutzgebiet und Biolandwirtschaft scheint die Welt hier auf den ersten Blick noch in Ordnung. Doch als eine Investmentfirma beschließt, in unmittelbarer Nähe des Dorfes einen Windpark zu errichten, nimmt das Unglück seinen Lauf.
Alte Konflikte zwischen WendegewinnerInnen und –verliererInnen keimen wieder auf. Denn nicht nur alteingesessene Dörfler, auch neu zugezogene Berliner AussteigerInnen, die in Unterleuten ihren Lebenstraum zu verwirklichen gedenken, sehen die Landidylle durch dieses Bauvorhaben bedroht. So spitzt sich der Konflikt immer weiter zu, bis es schließlich zu einem serienreifen Showdown kommt: Es geht um Kampfläufer, Grundstücke, Wiedervereinigung, Geld, Moral, Baugenehmigungen, Windenergie, Stadtflucht, Ehekrisen, geschuldete Gefallen, Leichen im Keller und das Wohl eines Dorfes.
Aus Sicht einer allwissenden Erzählerin wird das komplexe Gesellschaftsgefüge einer Dorfgemeinschaft Schritt für Schritt aufgedröselt. Das Augenmerk liegt auf elf EinwohnerInnen Unterleutens.
Auf fast 640 Seiten erfahren die LeserInnen immer mehr über die Vergangenheit, Träume und Lebensvorstellungen der handelnden Personen. Da sind Landwirt Gombrowski und seine Frau Elena, die das Dorf seit DDR-Zeiten nicht verlassen haben. Es gibt die zugezogene „Pferdefrau“ Linda Franzen und ihren spieleentwickelnder Lebenspartner Frederik Wachs, die eine alte Villa renovieren, welche bis dahin noch all ihren Vorbesitzern Unglück brachte.
Hinzu kommen Bürgermeister Arne Seidel, der nur versucht, alles richtig zu machen, und Investor Konrad Meiler, der aus einer Laune heraus die halbe Region aufkauft. Weitere EinwohnerInnen Unterleutens sind der Berliner Intellektuelle und Aussteiger Gerhard Fließ, der nun all seine Energie in den Schutz einer seltenen Vogelart steckt, mit seiner zwei Jahrzehnte jüngeren Frau und Baby. Auch der alleinerziehende Vater und Kommunist Kron und seine mittlerweile erwachsene Tochter Katrin sind in dem Ort sesshaft. Und da gibt es Bodo Schaller, der sich an vieles nicht mehr erinnern kann und noch immer in Unterleuten ist.
Auch wenn der Roman anfangs etwas schleppend ins Rollen kommt, lohnt sich das Weiterlesen ohne Zweifel. Juli Zehs Händchen für Handlungsführung und Figurenpsychologie zeigt sich auch in diesem Roman. Die komplexen Charaktere sind glaubwürdig dargestellt und Zeh gelingt es, die Figuren in verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und Beweggründe zu erklären, sodass die LeserInnen mal Bezugspunkte zu den Charaktere finden und mal abgestoßen werden. Dabei verwendet sie viele Vergleiche, behält jedoch ihre nüchterne und realistische Erzählweise bei.
Die vielseitigen ProtagonistInnen sind verschiedener Herkunft, aus unterschiedlichen Altersklassen und Lebensrealitäten. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen differierende Lebensmodi und die Suche nach der eigenen Identität. Eingebunden in die bundesdeutsche Geschichte und Gegenwart liest sich der Roman wie ein Thriller und spiegelt eine Entwicklung wieder, die in vielen deutschen Dörfern schon längst Realität geworden ist und bestehende Gemeinschaften auseinanderbrechen lässt.
Zeh spannt ein Netz aus Beziehungslinien, gegenseitigen Abhängigkeiten, Wünschen und Erwartungen an eine Gemeinschaft im Wandel der Zeit. Sie zeichnet mit dem Roman ein Abbild unserer gegenwärtigen Gesellschaft, zeigt das Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne, die noch immer bestehende Kluft zwischen Ost und West, Stadt und Land, Egoismus und Gemeinschaftssinn, Jung und Alt. Und über allem schwebt die Frage, ob es im 21. Jahrhundert unter Leuten noch eine Moral jenseits des Eigeninteresses gibt.
Von Marlene Iris Happ
Beitrag erstellt am: 22.03.2019 um 09:50 Uhr
Letzte Änderung am: 09.11.2019 um 23:36 Uhr