An jedem Ort, den ich auf Reisen besuche, heißt die erste Maßnahme: Stadtführung. Möglichst günstig, möglichst authentisch. Vor allem in Europa landete ich mit diesen Kriterien bisher regelmäßig auf einer sogenannten „Free Walking Tour“, einer Art der Stadtführung, die vor 15 Jahren in Berlin erfunden wurde und sich seitdem erfolgreich verbreitet. Das Konzept: Ein motivierter Einheimischer führt eine Gruppe spontan teilnehmender Reisender durch seine Heimatstadt. Motiviert deshalb, weil die Bezahlung erst mit Abschluss der Tour und nach dem Motto „pay-what-you-want“ erfolgt. Ich wurde Stammkunde, weil die Touren nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam waren, der Guide mir stets auf Augenhöhe begegnete und ich unter den „Free Walkers“ leicht nette Reisebekanntschaften machte. Dass ich am Ende nichts zahlen wollte, ist nie vorgekommen.
Als ich mich heute in Köln zu der laut durcheinanderredenden Gruppe nationenbunter Weltenbummler geselle und der gut gelaunte Tourguide mir mit ausgestreckter Hand entgegenkommt, ist alles sofort déjà-vu-haft vertraut. Nur ein entscheidendes Detail stimmt so gar nicht: Ich befinde mich nicht auf Reisen, sondern in der Stadt, die mir von Kindesbeinen an vertraut ist und in der ich seit vier Jahren wohne. Die Eigelstein-Torburg, unter der wir uns treffen, passiere ich fast täglich mit dem Fahrrad, ein paar Meter weiter liegt der türkische Supermarkt, bei dem ich einkaufe, im Sommer gehe ich mit meinem Freund in der „Gelateria Porta Romana“ Eis essen. Warum ich heute ausnahmsweise mit Sonnenhut und Fotoapparat auf der Seite der TouristInnen stehe, hat zu diesem Zeitpunkt vor allem einen Grund:
Wieso sollte man der Stadt, die man seine Heimat nennt, weniger kulturelle Neugier entgegenbringen als einem Reiseziel, dem man von seiner ganzen Lebenszeit – wenn es hoch kommt – zehn Tage zugesteht? Okay, natürlich kann dem geborenen Kölner genauso wenig wie dem „Imi“ (Kölsch nicht für „Immigrant“, sondern „Imitant“ – Augenzwinkern inbegriffen) ein Desinteresse an der eigenen Stadtkultur unterstellt werden, nur weil er die Stadtführung auslässt. Bei mir lief es zumindest so: Zuerst gab es wichtigere Dinge zu tun. Umziehen, Uni, Freunde finden, Job suchen. Und irgendwann hat man dann wider Erwarten die ein oder andere Karnevalssaison überlebt und kriegt im Veedel sein Kölsch angeschrieben ohne seinen Namen zu nennen. Kein Anlass mehr, an Stadtführung zu denken. Davon träumen TouristInnen. Aber schlägt man die TouristInnen auch bei den groben Fakten? Woher kommt denn der Name „Köln“? Wer sind „Tünnes und Schäl“ und der „Kallendresser“? Soll der Dom so schwarz sein? Und wieso muss überhaupt alles immer auf „elf“ hinauslaufen? Man sollte denken, ein Kölner kenne alle Antworten. Ist aber gar nicht so. Denn diesen Fragen begegnet man in seiner täglichen Blase nicht. Und genau deswegen stehe ich mit Sonnenhut am Eigelstein und bin fast so gespannt, wie ich es in Lissabon, Venedig und Rom war. Ich und meine Stadt Köln erleben unser erstes Date, das wir nie hatten.
Der Guide, der auf mich zukommt, stellt sich als „Matthias“ vor. Ein Glücksfall, zufällig weiß ich, dass er der Gründer von Freewalk Cologne ist. Als die Gruppe für die deutsche Führung von zwei auf drei Teilnehmer anwächst, lässt er den Vorschlag, mich und meinen Freund zur 20-köpfigen englischen Gruppe dazuzustecken, fallen und verkündet fröhlich, dass unser Quartett jetzt groß genug sei. Stadtführung zu dritt beim Chef, nicht schlecht. Wir starten um 12:11 Uhr mit einer kleinen Kennenlernrunde: Jeder muss sich vorstellen und ein lustiges Geheimnis über sich erzählen. Es funktioniert, spätestens als unsere dritte Mitstreiterin vom Kaliber „Ich mache wirklich alles mit“ schildert, wie man Weitspucken mit Giraffenkot praktiziert, fühlt sich die leicht angeekelte und lachende Runde schon nicht mehr so fremd an. Guide Matthias ist natürlich Geburtskölner und erzählt von seinem 4-jährigen Aufenthalt in Görlitz, als wäre er jemandem fremdgegangen – „untypisch“.
Ich als Köln-Imi(tant) weiß zwar auch, dass der Karneval am Elften-Elften-um-elf-Uhr-elf startet und dass am Ende an allem der Nubbel schuld war, aber als mich neulich jemand fragte, wann der Dom eigentlich gebaut wurde, musste ich passen. Peinlich. Als Matthias beginnt, die Geschichte um das Eigelstein-Tor zu erzählen, fügt sich in meinem Kopf zum ersten Mal das Gesamtbild mit den Toren am Chlodwig- und Rudolfplatz zusammen. Natürlich, die hingen alle mal an der gleichen Stadtmauer, hätte man drauf kommen können. Hat man aber halt nie drüber nachgedacht. So geht es mir heute noch öfter. Zwischen Torburg, Dom und Rathaus streut Matthias, nebenbei rauchend und rechts und links grüßend, auch jede Menge lose Kölner Anekdoten und Legenden. Als wir beim „Ristorante Luciano“ vorbeikommen, erzählt er uns nicht nur, dass hier schon Michael Jackson diniert hat, sondern auch, warum und seit wann Herr Luciano sein neues Auto fährt, das neben dem Eingang steht. „Und wisst ihr, was Herr Lommerzheim gesagt hat, als der Assistent vom Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika bei ihm anrief? ‚Und ich bin der Kaiser von China‘ – und hat aufgelegt.“ Von Minute zu Minute füllt sich mein kleiner Fundus an Geschichten und Fakten, die auch ich demnächst souverän meinem Besuch aus der Ferne erzählen kann. Der Dom wurde übrigens 1248 erbaut. „Und der 1. FC Köln genau 700 Jahre später gegründet, 1948, das kann kein Zufall sein“, wirft Matthias ein.
Als wir vom Dom Richtung Rathaus laufen, geht es auf 14 Uhr zu. Die Temperaturen kratzen an der 30-Grad-Marke, meine Augen brennen, weil ich mir etwas Sonnencreme hineingerieben habe, und an meinem kleinen Zeh spüre ich jetzt langsam aber sicher eine Blase aufquellen. Durch die kleinen, altmodischen Gassen um den Alten Markt bin ich in den letzten vier Jahren schon unzählige Male gelaufen, aber als ich jetzt folgsam hinter meiner Touristengruppe herzockele, bemerke ich, wie ich alles ganz anders betrachte als sonst. Heute denke ich nicht an das Ziel, das ich habe, oder fahre abwesend mit meinen Augen über die Menschen, denen ich ausweiche, während ich mit einer Freundin schwatze. Heute hat die Vorstellung unseres Guides mir ganz automatisch den scharfen Blick einer Touristin verliehen. Hin und wieder stolpere ich, weil ich, statt auf den Weg zu achten, alles ganz genau mustere, als sähe ich es zum ersten Mal: Die zweiten Etagen, die aus den Häuserwänden hervorstehen, die kleinen Läden mit besonderen Souvenirs, die großen Pflastersteine am Boden. Für einen Moment vergesse ich fast, dass ich mich auf vertrautem Terrain befinde. Verrückt.
Unter dem Baum am Willi-Ostermann-Brunnen endet die Tour ziemlich exakt nach den planmäßigen zweieinhalb Stunden. Auch mit einem Gruppenanteil von zwei Dritteln Einheimischer sind wir nicht viel schneller gewesen als die internationale Gruppe. Wir geben uns Mühe, einen angemessenen Applaus für Matthias zustande zu bringen, der eine Verbeugung andeutet und nun den obligatorischen Hut in die Runde reicht. Trotz Großzügigkeit seiner drei Schafe keine fette Beute heute, aber Matthias scheint trotzdem zufrieden. Als er fragt, ob wir noch Lust auf ein Kölsch haben, sagen alle ja. Wir sind entspannt, Kölsch um 15 Uhr gibt es bei mir nur an besonderen Tagen, gerade erscheint es ganz naheliegend. Mit Blick auf den Rhein lasse ich meinen Urlaub ausklingen. Danke Köln, für dieses schöne erste Date.
Von Jana Niedert
Beitrag erstellt am: 28.08.2018 um 22:06 Uhr
Letzte Änderung am: 10.11.2019 um 14:26 Uhr