Das Palace Theatre in London ist erfüllt mit Stille, kurz bevor die ersten altbekannten Töne erklingen und die Bühne zum Leben erwacht: Hogwarts, Familienprobleme, Missionen, Vielsafttrank, Zauberduelle, Dummheiten, Verrat, Vergangenheiten, Weltherrschaft, Freundschaft. Als die letzten DarstellerInnen nach ihrem Auftritt die Bühne verlassen, folgt tosender Applaus. Aber vor allem zwischen Anfang und Ende finden sich in Harry Potter and the Cursed Child viele Momente, die die ZuschauerInnen dazu bringen zu lachen, zu stöhnen und die Luft anzuhalten. An einem Mittwoch im September zeigte sich diese Begeisterung der Fans im Verlauf des Stückes ganz besonders in drei eher unerwarteten Szenen — und diese drei Momente sagen viel über das Erlebnis Cursed Child aus: über die Qualität der Handlung, über die Art der ZuschauerInnen und die Stärke der SchauspielerInnen.
Es ist nicht verwunderlich, dass das neue Stück auch eine Hommage für eben jene Fans ist, die sich schon vor über einem Jahr die Tickets kauften. Vermutlich auch deswegen kommt mit Albus Potter (Sam Clemmett) und Scorpius Malfoy (Anthony Boyle) nicht einfach nur die nächste Generation zweifelhaften Heldenmutes auf die Bühne, auch eine Demontage der Abenteuer ihrer Eltern findet statt. Die AutorInnen J.K. Rowling, Jack Thorne und John Tiffany erschufen die Geschichte von Cursed Child anhand altbekannter Marker, aber schenken den Fans auch viele neue Momente: Während Harry Potters (Jamie Parker) Alltag inzwischen unter anderem daraus besteht, ein unvollkommener Vater zu sein, stellt sein Sohn Albus fest, dass nicht alle Erlebnisse des Auserwählten „einfach“ heldenhaft gewesen sind. So müssen sie sich Dämonen aus Vergangenheit und Gegenwart stellen und dabei noch einige Identitätskrisen durchstehen. Neue Abenteuer, bei denen auch die Familie Malfoy keine unwichtige Rolle spielt. Ja, so ist auch der Plot eine Hommage —aber keine Aneinanderreihung von lahmen Witzen, alten Bekannten und schlechten Imitationen der „Originale“.
Dies lässt sich schon anhand einer Stelle im ersten Drittel des Stückes erkennen: „Well, there are times I wish you weren’t my son.“ Als dieser Satz fällt, dauert es nur Millisekunden, bis das scharfe Luftholen Einzelner das ganze Publikum ergreift. Sicherlich war dieser Moment dazu gedacht, zu schockieren. Dass es aber ausreicht, den ganzen Saal für einen Moment die Luft anhalten zu lassen, war gewiss nicht vorhersehbar, zeugt aber von der Tragweite dieser Szene, die den Ausgangspunkt und die Grundlage für die weitere Handlung darstellt.
Deswegen steht diese Szene zentral für das, was die AutorInnen erreichen wollten: zu überraschen. Denn so kontrovers das Stück (und seine Handlung) ist — weil Personen nicht der alten Charakterzeichnung entsprechen, weil ein unwahrscheinlicher Bösewicht aus dem Hut gezaubert wird, weil es überhaupt existiert — tut es etwas, dass die Fans in Fanfictions schon seit Jahren tun: Es stellt die Frage: „Was wäre, wenn?“ Man kann das gut oder schlecht finden, aber es funktioniert. Denn es berührt die ZuschauerInnen, lässt sie mitfiebern, darüber nachdenken und es beurteilen — das ist es, was die Handlung eines guten Theaterstücks leisten sollte.
Trotzdem haben sich viele entschieden, dass Harry Potter für sie abgeschlossen ist. Das allerdings sind nicht diejenigen, die sich im Theater zusammengefunden haben. Dort ist die Frau Ende fünfzig mit der Handtasche, auf dem das Symbol des Ministeriums für Magie abgebildet ist; und der kleine Junge, der im Rhythmus der Titelmelodie gegen die Rückenlehne tritt und summt, noch bevor die Musik erklingt; aber auch die Studentinnen mit den Shirts, auf denen „Always“ steht. Sie erschaffen den Teil der Atmosphäre, der über Geschichte und Bühnenbild hinausgeht.
Offensichtlich wird das in jenem zweiten Moment, als eine Reaktion die ZuschauerInnen ergreift, die so nicht eingeplant gewesen sein kann. Die Frage des Comic-Reliefs Ron Weasley (Paul Thornley) „So you’re telling me that the whole of history rests on … Neville Longbottom?“ war vermutlich als Witz angelegt, aber die Fans lachen nicht. Stattdessen erklingt ein kollektives: „Oooohh“. Es ist ein Nebensatz, der eigentlich nur ein anderes Argument begleitet, aber für die Liebhaber der Reihe eine eigene Bedeutung hat: Die Anerkennung eines ihrer favorisierten Nebencharaktere und die Hervorhebung seiner Leistung. In kaum einem anderen Theaterstück hätte ein solcher Satz eine ähnliche Reaktion hervorrufen können. Auch Jamie Parker (Harry Potter) erzählt in einem Video zum Stück: „I’ve never worked on a play where I’ve heard audible gasps from audiences not because of some special effects —although we are getting those — but it’s just release of information; it’s just things that these characters are saying.“ Es sind die Kleinigkeiten, die innerhalb des Textes, im Szenenbild oder in den Gesten der SchauspielerInnen als Anspielung für die Fans gedacht sind und als solche erkannt und anerkannt werden.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass nach der letzten Szene nicht nur geklatscht und gejubelt, sondern auch aufgestanden wird. Nicht zu leugnen ist, dass bei dem Auftritt der Darsteller von Scorpius und Albus besonders anerkennend gepfiffen und bei Hermine Granger (Noma Dumezweni) sehr lange geklatscht wird. Ungewöhnlich aber sind die Buh-Rufe, die die Verabschiedung von zwei DarstellerInnen begleiten und die immer lauter werden, bis sie in Jubelrufe umschlagen. Für einen kurzen Moment, den mindestens dritten in diesem Stück, offenbart sich damit eine weitere Besonderheit: die Stärke der SchauspielerInnen. Selten sind Buh-Rufe eine Form der Anerkennung — in diesem Fall würdigen sie die überzeugende Vorstellung der SchauspielerInnen. Nach dem kontrovers diskutierten Casting — Diskussionen angefangen beim Alter der DarstellerInnen, über die Haar- und Hautfarben bis hin zu Vergleichen mit den FilmschauspielerInnen — zeigt die Begeisterung des Publikums, dass diese Entscheidungen nicht verkehrt gewesen sein können. Und tatsächlich beweist der Cast Bühnenpräsenz, Einsatzbereitschaft und Talent: Sowohl das goldene Trio (Parker, Dumezweni, Thornley), als auch das neue Helden-Duo (Clemmett, Boyle) liefern eine überzeugende und von der Presse hochgelobte Performance.
Bei Beginn der öffentlichen Proben zu Harry Potter and the Cursed Child postete J.K. Rowling ein Video und bat die Fans: „Keep calm and keep the secrets.“ Die Autorin des Artikels fühlt sich dieser Bitte verpflichtet und hat sich daher bemüht, in ihrer Rezension nichts von der Handlung vorwegzunehmen. Abgesehen von einer allgemeingehaltenen Beschreibung und drei Zitaten, die in ihrer Bedeutung nicht näher erläutert werden, kann die Rezension daher gefahrlos gelesen werden.
Es hat zahlreiche Bedenken bezüglich des Stückes gegeben: ob die Magie ohne die ehemaligen SchauspielerInnen, die schönen Landschaften und ohne die Special Effects des Green Screens auf einer Theaterbühne funktionieren könnte. Harry Potter and the Cursed Child beweist, dass es letztendlich für einen solchen Medienwechsel nur ein paar Dinge braucht: Ausreichendes Budget, einen kontroversen Plot, die richtigen Fans und DarstellerInnen sowie ein klein wenig Mut.
Was also von dem Stück — dem Erlebnis Harry Potter and the Cursed Child — übrig bleibt, ist die Entscheidung jedes Einzelnen, den Weg mit Harry Potter weiterzugehen, es bei den alten Geschichten zu belassen oder ihn weiterhin zu ignorieren. Aber auch die Gewissheit, dass Hogwarts, das alte wie auch das neue, weiterhin eine Heimat für all jene sein wird, die es sich wünschen.
Harry Potter and the Cursed Child feierte am 30 Juli 2016 im Londoner Palace Theatre Premiere. J.K. Rowling, Jack Thorne und John Tiffany schrieben das Skript, das am 24. September in Deutschland erschien. Am Stück selbst sind 42 SchauspielerInnen und über hundert kreative MitarbeiterInnen beteiligt. Im Palace Theatre in London ist es voraussichtlich noch bis Ende 2017 ausverkauft. Für Februar 2018 sind aber inzwischen ebenfalls Karten verfügbar.
Von Jane Escher
Beitrag erstellt am: 23.11.2017 um 13:00 Uhr
Letzte Änderung am: 10.11.2019 um 22:23 Uhr