„In Deutschland muss niemand auf der Straße leben.“ Diesen oder ähnliche Sätze hat bestimmt jeder schon einmal gehört. Ein Blick in die Kölner Innenstadt zeigt jedoch ein anderes Bild. Schon am Hauptbahnhof begegnen wir zahlreichen Menschen, die um etwas Kleingeld bitten. Auch um den Dom herum sitzen viele Leute mit ihren Pappbechern und hoffen auf die Nächstenliebe der Kirchgänger. Der Weg bis zum Neumarkt sieht nicht anders aus. Zwischen den Geschäften sitzen Obdachlose fast jeden Alters und unterschiedlicher Nationalitäten und betteln. Täglich besuchen zwischen 70 und 100 Menschen Gulliver, eine Überlebensstation für Obdachlose. Dort bekommen sie günstige Mahlzeiten, können duschen und Computer mit Internetverbindung benutzen. Außerdem stehen ihnen drei SozialarbeiterInnen für Hilfe und Beratung zur Verfügung. Es ist offensichtlich. In Deutschland gibt es viele Menschen, die auf der Straße leben. Sie alle haben eine Geschichte.
Ich bin vor etwas über vier Monaten vor meinem Mann abgehauen. Ich bin noch verheiratet und wollte eigentlich ein Hotelzimmer in Köln haben, aber dann hat man mir im Wohnungsamt gesagt, dass sie mir kein Hotelzimmer geben können, weil es für die Flüchtlinge frei bleiben muss. Jetzt bin ich nochmal hingegangen. Da haben sie gesagt, ich soll bis Ende April warten und dann nochmal fragen. Entweder schlafe ich in der Notschlafstelle oder draußen. Zehn Tage lang war ich im Frauenhaus. Die bleiben dann aber nicht zuständig, solange keine akute Gefahr ist. Mein Mann hat so eine Bannmeile gekriegt vom Gericht. Der darf sich mir bis auf 800 Meter nicht nähern und danach musste ich dann gehen. Für Frauen gibt es hier noch eine Notschlafstelle, aber die ist ständig voll. Und die andere, die es hier gibt, ist für Männer und Frauen zusammen, aber die ist nur für Betäubungsmittelabhängige. Für Frauen gibt es hier nur eine einzige und da ist es echt schwierig einen Platz zu kriegen.
Mir ist das zufällig passiert. Es ist eigentlich eine lange Geschichte. Ich bin plötzlich steuerschuldig geworden. Dafür hat man mich viereinhalb Jahre eingesperrt. Ich hatte ja keine 50 Millionen Steuerschulden, sondern eine Kleinigkeit. Ich hatte eine kleine Firma. Mir wurde plötzlich der Teppich unter den Füßen weggezogen. Der Mensch landet auf der Straße. Und dann spricht man von Resozialisierung, die nicht vorhanden ist. Ich hab heute noch Steuerschulden und jetzt, was soll ich da machen? Ich bekomme 172 Euro Rente und darum sitze ich hier und bettele. Ich bin jetzt 30 Jahre auf der Straße. Vater Staat nimmt ja auch alles, was auf der Bank ist, weg. Wenn ich nicht das Häuschen auf meine Kinder geschrieben hätte, wäre das auch weg gewesen. So war von Geburt an für meine zwei Kinder fürs Studium gesorgt. Mein Sohn ist 42, ich bin 66.
Ich brauche mir um meine Kinder keine Sorgen zu machen. Heute muss man sich aber schon um Kinder Sorgen machen. Wenn wir so weiter machen. In Deutschland gibt es drei Millionen Arbeitslose. Wir haben auch selber Obdachlose und dann – ich hab nichts gegen Menschen, die auf der Flucht sind, aber Deutschland sagt zu allem ja. Das geht nicht. Man soll auch vor der eigenen Haustür kehren. Ich habe nichts dagegen ein gewisses Kontingent zuzulassen. Aber wie viele Jugendliche sind ohne Arbeit? Das muss man eigentlich sehen. Das ist ein politischer Mist und nicht ein menschlicher Mist.
Ich bekomme 172 Euro Rente. Ich krieg‘ von der Stadt Köln nichts, weil ich noch nie in Köln gelebt habe. Ich bin als Obdachloser hierhergekommen. Darum hat Köln mit mir nichts zu tun. Ich komme aus irgendeinem Kriegsgebiet und bekomme zumindest ein Zelt. Ja, ich komme aus Hamm und sage: „Im Winter ist’s kalt. Bewilligt mir ein Zelt.“ Da sagen die: „Nee.“ Wie kann man Menschen denn nach zwei Maßstäben behandeln?
Mo: Bei mir ist es eigentlich so klischeemäßig. Meine Eltern haben mich rausgeworfen, irgendwann mit sechszehneinhalb. Und dann bin ich ganz lange so in der Gegend rumgetingelt, habe Häuser mit besetzt, habe meinen Spaß gehabt, habe bei Freunden gepennt. Meine Realschule habe ich beendet. Ich würde eigentlich mein Abitur gerne noch machen. Vielleicht auch eine Ausbildung. Ich weiß noch nicht so genau. Wir sind gerade auf Wohnungssuche, versuchen übers Amt da was zu regeln. Wird schon irgendwie. Sancho: In Köln ist das schwer. Köln ist total überlaufen. Jeder will nach Köln. Mo: Wir suchen erst seit ein paar Monaten. Ich bin vor zwei Jahren nach Köln gekommen und davor war ich in Bayern unterwegs.
Mo: Vor zwei Jahren ungefähr habe ich mit einem Kollegen in Köln einfach „LSD“, „Puff“, „Essen“, „Kiffen“ und „Bier“ auf Schilder geschrieben. Das kam verdammt gut bei den Leuten an. Wir haben gelebt wie Gott in Frankreich. Wir dürfen das nicht mehr. Das Ordnungsamt sagt, das wäre zu anstößig.
Mo: Naja, es saßen halt zwei Punker zusammen, haben Bier getrunken und haben sich überlegt, wie sie die Leute auf den Arm nehmen. Im Endeffekt haben wir nur das Klischee bedient. Die Leute erwarten von uns, dass wir saufen, dass wir kiffen. Dann schreiben wir das doch hin. Die neuen Schilder (Anmerkung der Redaktion: „Liebe“, „Friede“, „Respect“, „Freude“) laufen schlechter, aber wir dürfen immerhin wieder hier sitzen. Nach der Silvesternacht haben die hier stark aufgeräumt. Ich glaube, das hängt auch damit zusammen. Vorher hat sich nie jemand beschwert oder daran gestört.
Sancho: Eigentlich auch ganz klassisch. Frau, Scheidung, Kinder. Irgendwann war kein Geld mehr da. Kein Job mehr. Burnout, eine schwere depressive Episode. Ich habe im Stahlwerk gearbeitet. Das ist ein Jahr her. Ich war zuerst in Singen am Bodensee. Da habe ich mein Auto verkauft. Den Rest, der mir noch geblieben ist, vor den gierigen Krallen der Frau gerettet (lacht). Und damit bin ich dann so den Sommer über am Bodensee gewesen. Irgendwann war natürlich das Geld weg. Und jetzt versuchen wir halt irgendwie in Köln zu landen, eine Wohnung zu kriegen, arbeiten zu gehen. Am liebsten würde ich was mit Kindern machen, aber wenn du nun mal in einem Stahlwerk gearbeitet hast, dann… das wo ich landen werde, ist eine Leiharbeitsfirma. Die werden fragen: „Wat haben se denn gemacht? Wat können se?“ Dann werde ich denen sagen, ich hab einen Staplerschein, ich bin anlernender Maschinenführer. Und dann werden die sich freuen und mich zu Ford oder Bayer oder was weiß ich wohin schicken. Dann ist Fabrikarbeit angesagt. Wenn ich hier eine Wohnung habe, hole ich mir auch wieder einen Anwalt vom Sozialdienst Katholischer Männer. Da kann man sich einen Anwalt über Bezugskostenhilfe holen. Der soll sich von meiner alten Anwältin in Trier die Akte schicken lassen und einen Brief schreiben, dass ich meine Kinder zu Gesicht bekommen möchte.
Es kam dazu, dass ich 15 Jahre lang im Heim war wegen meiner Familie, weil die zu viele Drogen genommen und mich verwahrlosen haben lassen. Nach 15 Jahren im Heim, habe ich dann zum Jugendamt, zu allen Leuten gesagt: „Ich möchte das nicht mehr. Ich will mein Leben nicht noch weiterhin versauen. Ich gehe auf die Straße.“ Und jetzt lebe ich seit einem halben Jahr auf der Straße.
Weil ich da belästigt worden bin, mit einem Messer bedroht und von den Betreuern fertig gemacht wurde. „Du bist scheiße, du bist ein Mobbingopfer.“ Da bin ich noch zur Schule gegangen, habe versucht mir alles aufzubauen und es ging halt nicht. Also, es war ziemlich schwierig irgendwas zu schaffen, weil meine Eltern mir da ja einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Ich versuche irgendwie eine Wohnung zu kriegen, damit ich mir mein Leben wieder aufbauen kann. So nach und nach hier in Köln. Ich hab mich schon an mehrere Leute gewendet, aber es braucht halt seine Zeit bis das alles klappt. Arbeitsmäßig wollte ich eigentlich schon immer LKW-Fahrer oder Zugfahrer werden. Das war schon immer mein Traum, aber ich weiß es nicht. Im Einzelhandel habe ich auch schon gearbeitet. Vielleicht wäre das auch was.
Ich arbeite hier beim Gulliver für die Obdachlosen als Ehrenamtlicher. Ich darf nicht mehr arbeiten gehen, weil ich einen Herzinfarkt hatte. Darum habe ich hier Arbeit. Für die Obdachlosen kochen, alles. Ich hab das 28 Jahre mitgemacht. Auf der Straße pennen. Ich bin geschieden worden. Meine Frau hat mich in die Scheiße reingeritten. Arbeit verloren. Und dann ging es bergab. Ich habe für die Wohnungen immer eine Absage gekriegt, noch eine Absage gekriegt und jetzt habe ich seit zwei Jahren eine. Es gibt Menschen, die sind Schweine. Es gibt aber auch viele, die einem geholfen haben, die einem Essen oder Geld gegeben haben. Nur die meisten haben gesagt: „Willst du saufen auf der Straße?“ und ich war immer froh, wenn ich etwas zu essen hatte. Ich hab auch Schlafsäcke und Decken gekriegt. Abends kam ein älteres Ehepaar vorbei und hat Kaffee und Brötchen vorbeigebracht. Das war nicht schlecht. Trotzdem ich bin froh, dass ich von der Straße runter bin.
Also, ich war siebzehneinhalb Jahre arbeitstätig. Dann bin ich arbeitslos geworden, weil das Arbeitsverhältnis nicht mehr so gut war, und habe Arbeitslosengeld bekommen. Dann war ich in der Leiharbeit. Dort habe ich weniger Geld bekommen als Arbeitslosengeld und dann habe ich mir gedacht, jetzt mache ich mal ein Sit-Out und bin seit November arbeitslos. Obdachlos, arbeitslos, alles. Ich bekomme jetzt im Moment keine Stütze, ich bin hier noch nicht gemeldet. Ich habe meinen Personalausweis auf dem Weg hierher verloren und jetzt muss ich halt schnorren. Wenn ich zehn Euro zusammen habe, hole ich mir mal ein Päckchen Tabak oder ein Fläschchen Bier. Deswegen komme ich im Moment auch nicht voran. Aber wenn ich meinen Personalausweis neu ausgestellt kriege, dann. Ich will wieder arbeiten, aber jetzt im Moment habe ich keine Lust, muss ich echt sagen. Ich bin freiwillig auf die Straße gegangen. Ich komme aus Baden-Württemberg. Ich war erst in Mannheim obdachlos. Und dann hab ich einen Kölner getroffen, der hat gesagt: „Komm nach Köln. Köln ist cool.“ Und dann bin ich mit nach Köln und es ist auch gut hier. Die Kölner sind nette Leute, der Dom ist interessant.
Obdachlos – was jetzt?
Menschen, die ihre Wohnung verloren und keinen Schlafplatz haben, können Notschlafstellen aufsuchen oder sich von Hilfsorganisationen wie der Oase einen Schlafsack geben lassen. Es gibt auch einen Obdachlosennotruf. Wer diesen wählt, wird über verfügbare Notschlafplätze informiert und bekommt in der Regel nach drei Tagen ein Hotelzimmer für sechs Wochen. Obdachlose und GeringverdienerInnen können sich von der Stadt einen Wohnberechtigungsschein ausstellen lassen, der ihnen erlaubt, in öffentlich geförderten Wohnraum zu ziehen. Dieser Schein garantiert jedoch keine Wohnung, weil die Stadt nicht über genügend Sozialwohnungen verfügt.
Von Fatima Grieser
Beitrag erstellt am: 23.10.2017 um 12:00 Uhr
Letzte Änderung am: 10.11.2019 um 23:24 Uhr