Sie erkennen sich untereinander schon auf den ersten Blick, denn es fällt nicht schwer, den Unterschied zu anderen Fahrgästen auszumachen. Pendler bewegen sich am Bahnhof sehr vertraut. Sie wissen, wo das Brötchen am preisgünstigsten, aber auch am leckersten ist, geübt springen sie über Koffer und weichen routiniert Kleinkindern aus. Pendler zeigen ohne merkbar aufzuschauen dem Schaffner das Ticket vor. Andere Reisende hingegen kramen nervös ihren Bahn-Dokumentenumschlag aus der Tasche und halten es, beinahe stolz, dem Schaffner unter die Nase. Sie wirken dementsprechend geknickt, wenn dieser den Akt mit einem knappen Kopfnicken abtut. Unter Pendlern entwickelt sich mit der Zeit ein gewisses Gemeinschaftsgefühl und das trotz einer Vielzahl unterschiedlichster Charaktere, die in der Bahn jeden Morgen und Abend verlässlich anzutreffen sind. Ich frage mich: Welche Spezies wird wohl heute Abend neben mir Platz nehmen?
Es beginnt bereits mit dem Einrollen des Zuges am Gleis. Dicht gedrängt tippeln alle Wartenden der Zugtür hinterher. Es geht um die besten Plätze im Regionalexpress nach Köln. Die erfahrenen Streckenfahrer stehen allerdings schon gelassen an dem Fleck (drittes Kaugummi links von der Rille mit der gesprungenen Bodenplatte), an dem sich die heißbegehrte Tür öffnen wird, denn sie wissen inzwischen, dass die Bahn ziemlich präzise dort hält, wo sie nun mal jeden Morgen hält. Während die herausströmenden Massen aus dem Zug gelassen werden, ist damit zu rechnen, gelegentlich einen Kaffeebecher in den Rücken, einen Ordner in die Seite oder doch das Kapuzenfell des Vordermanns ins Gesicht gedrückt zu bekommen. Dann, in den Zug gestiegen, schwärmen die meisten hastig aus, auf der Suche nach dem perfekten Sitzplatz.
Natürlich ist bei der Sitzplatzsuche nicht immer Glück im Spiel. Unvermeidbar trifft jeder einmal diese freundlichen Bahn-Menschen: sei es der „Kein Platz, ich starre gerade beschäftigt aus dem Fenster“-Mensch oder der „Ich krame so lange in meiner Tasche auf dem freien Platz, bis du weiter gehst“-Mensch. Tipp: Diese Bahnfreunde am besten mit einem langen, beklemmenden Blick strafen und sich mal einfach ohne etwas zu sagen schwungvoll setzen (teure Handtasche hin oder her). Keiner Schuld bewusst sind sich diejenigen, die ihren Koffer während der gesamten Fahrt als Begleiter auf (!) dem Sitz neben sich sitzen lassen… Sie lächeln aber meist nett – haben sie sich doch gerade erst von den „Koffer-im-engen-Gang-Wegverstopfern“ lösen können.
Ihn werdet ihr mit Sicherheit schnell erkennen. Die Tüte mit dem schön geschmierten Brot hält der Esser schon in der Hand während er (in Gedanken bereits ganz bei seinem Butterbrot) den Versuch unternimmt, sich wenigstens ein paar Sekunden mit etwas anderem zu beschäftigen. Meist wird also schnell eine letzte Nachricht verschickt oder Unnötiges vorsichtig in den überfüllten Abfalleimer gequetscht. Der Esser umklammert mit der Hand das halb ausgepackte Butterbrot und beißt genüsslich zu. Nach dem Verzehr werden fein säuberlich ein paar Krümel von der Kleidung gestrichen und die Zunge fährt säubernd über die Zähne. Meist öffnet der Esser dann mit einem lauten Zischen sein Getränk oder schlürft aus seinem Kaffeebecher. Der Esser hält nun ein paar Minuten inne, denn das zweite Brot jetzt schon zu essen, wäre fatal und steht nicht auf dem Plan. Nachdem nun etwas nervös zum vierten Mal Krümel an der gleichen Stelle weggestrichen wurden (siehe Schuhe des Sitznachbarn) und nachdem sich die Zähne blitzblank anfühlen, hält es den Esser nicht länger bei Vernunft: Mit einem unauffälligen, aber zielsicheren Blick holt er nun doch das zweite Brot aus der Tasche hervor und beißt verstohlen zu. Aus schlechtem Gewissen wandert es angebissen schnell wieder zurück in die Tüte. Für schlechte Zeiten.
Einer der angenehmen Fahrgäste. Der Schläfer ist an sanft auf dem Schoß zusammengefalteten Händen oder gemütlich vor dem Körper verschränkten Armen zu erkennen. Auf jeden Fall tiefenentspannt. Nur wenige Sekunden dauert es, da fallen ihm die Augen zu und der Körper sackt ein wenig in sich zusammen. Mund leicht geöffnet, Kopf behutsam gegen die Fensterscheibe gelehnt. Oder er kippt, ganz zur Freude des Sitznachbarn, immer weiter in Richtung dessen Schulter. Zwei Reihen weiter zu finden ist der zu bedauernde alle-zwei-Sekunden-einknickender-Kopf-Schläfer. Oft zu beobachten: sie schauen sich auf einmal verwirrt um, bis der Typ gegenüber die offensichtlich im Raum stehende Frage beantwortet: „Mühlheim sind wir. Messe Deutz ist erst die Nächste.“ Andererseits scheinen Schläfer häufig die Fähigkeit zu besitzen, genau dann aus den Träumen zu erwachen, wenn ihre Haltestelle erreicht ist – als wären sie zuvor nicht mit dem Gesicht die Scheibe heruntergerutscht. Eine innere Pendler-Uhr muss es sein.
Egal wie früh oder spät, wie voll oder leer das Abteil, wie laut oder leise die anderen Fahrgäste – sie ist immer mindestens einmal vertreten: Die Person, die sich lautstark mitteilen möchte. Sie trifft einen Bekannten, plappert hemmungslos mit einer Bahnbekanntschaft oder telefoniert in voller Lautstärke. Sie scheint von allem begeistert und an allem interessiert. So dröhnen ihre auffällige Stimme und ihr hysterisches Auflachen durchs halbe Abteil und nahezu jeder erhält, ob er will oder nicht, private Informationen zu sämtlichen Lebensbereichen. Ähnlich verhält es sich mit den zwei eingeschworenen Freundinnen. Sie lieben die Bahnfahrt, um endlich mal wieder ausgiebig zu quasseln. Und zwar über alles. Sie halten grinsend ihre Köpfe zusammen, wenn sie sich im vermeintlichen Flüsterton über den neuen Typen austauschen, lästern über die blöde neue Kollegin, werfen lachend die Köpfe nach hinten, wenn es um die peinliche Aktion vom letzten Wochenende geht oder erzählen zufrieden von ihren neusten Shoppingerrungenschaften. Chatverläufe werden zusammen durchforstet und wild, aber glücklich gestikuliert. Zu zweit lacht es sich aus vollem Herzen einfach besser.
Diese Spezies ist weit verbreitet, vermehrt sich rasch und ist aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Schon am Gleis stehen sie wie eine Horde gelangweilter Zombies mit ihrem Smartphone in der Hand. Der Kopf baumelt im 60 Grad Winkel über dem kleinen Display, die Schultern fallen etwas nach vorne. Nur sehr selten gelingt es dem Smartphoner, sich vom Bildschirm loszureißen, dann nämlich, wenn er mit Nackenschmerzen einen kurzen Blick auf die Haltestellenanzeige wirft oder sich der Typ neben ihm vorbeiquetscht, weil er dessen Anzeichen, gleich aufstehen zu müssen, schlichtweg nicht wahrgenommen hat. Typischerweise lächelt der Smartphoner zwischendurch liebevoll sein Handy an oder aber er tippt mit leicht gerunzelter Stirn und konzentriertem Blick irrsinnig drauf los. Sämtliche sozialen Netzwerke und die Neuigkeiten des Tages werden gecheckt. Ein Wechselspiel zwischen Daumen-Tipp- und Zeigefinger-Scroll-Training. Seine schrecklichste Vorstellung: ein leerer Akku.
Schicke Lederschuhe, schnieke Uhr, kurz gestutzter Bart. Mantel aufgehängt. Aktentasche ordentlich zwischen den Füßen verstaut. Das Handy griffbereit. Die Knie in bestimmtem Winkel positioniert. Laptop auf dem Schoß – ein klarer Fall des Workaholics. Durch das schnelle und regelmäßige Tippen auf den Tasten identifiziert man ihn auch von Weitem auf Anhieb. Für ihn beginnt der Arbeitstag bereits mit dem systematischen Aufklappen des Laptops in der Bahn und endet auf der Rückfahrt etwa eine Minute vor Ausstieg. Sein Sitznachbar verfolgt verträumt die vorbeiziehende Landschaft durchs Fenster, nimmt die Felder, die kleinen Bahnhöfe, Strommasten und Vögel wie ein verschwommenes Aquarell wahr. Der apathische Blick des Workaholics ist währenddessen stets leicht nach unten auf den Laptop geneigt. Nie würde es ihm in den Sinn kommen, den Kreis der Konzentration für eine so ineffiziente Tätigkeit zu brechen. Nicht selten kommt es vor, dass er zwischendurch sein Handy zückt und schon am frühen Morgen beginnt, geschäftliche Telefonate zu führen. Was sich dieser Kandidat vermutlich nicht oft eingesteht: Wenn die Hände wieder automatisch über die Tastatur streifen, schweift der Workaholic mit den Gedanken ab und wünscht sich insgeheim, das ein oder andere Mal zur Gruppe der Musikhörenden zählen zu können.
So schnell wie der Workaholic seinen Laptop auspackt oder die Schläfer ins Land der Träume versinken, so schnell hat der Lernende alle wichtigen Utensilien aus dem Rucksack gekramt. In pink, orange und grün markiert er wild Textpassagen, kritzelt etwas an den Rand und arbeitet Seite für Seite des zusammengetackerten Skriptes durch. Der Lernende ist vorbereitet und nutzt die Fahrzeit effizient. Das einzige, was ihm aus dem Konzept bringt: Er sitzt am Gang und muss plötzlich seinen Sitznachbarn vorbeilassen. Dann wird er hektisch und packt verkrampft Block, Skript und Textmarker zusammen. Den Typus des Lernenden gibt es aber auch in anderer Variante: das Skript liegt aufgeschlagen auf den Beinen, bis zum Ausstieg ist er aber mit verträumt-aus-dem-Fenster-Starren oder Chatten gut beschäftigt.
Jeden Tag dieselben Persönlichkeiten und teils selben Gesichter. Allen gemein: Man kennt sich und doch spricht man nicht miteinander. Vielleicht aus Angst, wenn einmal miteinander gesprochen wurde, sich täglich unterhalten zu müssen. Deshalb reden wir nicht, wir bemerken uns lediglich. So versucht jeder für sich den Bahnaufenthalt auf seine Weise schmackhaft zu machen. Ich frage mich, welcher Kategorie ich wohl von den anderen Bahnfahrern zugeordnet werde – die der „Anstarrenden“ würde es vielleicht ganz gut treffen. Tja, sie alle können einem schon ganz schön auf den Geist gehen. Aber während ich hier sitze und der Esser mir von links ins Ohr schmatzt, muss ich schmunzeln, wenn ich an morgen denke. Ich weiß, ich werde in die Bahn steigen und sie werden alle wieder da sein: der fleißige Workaholic, das Bass-Mädel und daneben die Plaudertasche.
Von Laurence Boms
Beitrag erstellt am: 21.10.2017 um 11:55 Uhr
Letzte Änderung am: 10.11.2019 um 23:27 Uhr