Ich liebe Dich und Dich und Dich!

Schlösser
Liebe muss nicht monogam sein. Foto: Sebastian Wocknik

Beziehungen mit mehreren Menschen zu führen ist eine komplizierte Angelegenheit, kann aber funktionieren.

„Hi, ich bin Klara*, das ist mein Mann Hannes und dahinten sitzt mein Freund.“ Klara lächelt mich glücklich an, während sie mir ihr Beziehungsdreieck erklärt. Sie und ihr Mann sind schon seit Teenagerzeiten ein Paar, seit einigen Jahren sind sie verheiratet. Vor einem Jahr lernte Klara ihren Freund kennen, auch Hannes trifft sich mit anderen Frauen. Was im alltäglichen Leben immer wieder für Verwunderung sorgt ist beim Kölner Polyamorie-Stammtisch im Kulturcafé Lichtung die natürlichste Sache der Welt.

Das Café, welches sich als Kulturoase in der Südstadt etabliert hat, ist gemütlich eingerichtet, es herrscht eine entspannte Atmosphäre. Tische und Stühle passen überhaupt nicht zueinander und sind quer im Raum verteilt. Menschen jeden Alters trinken sitzend oder stehend Kaffee und Tee und unterhalten sich angeregt. Die Bezeichnung Stammtisch, mit der ich Männer mittleren Alters beim Biertrinken verbinde, erscheint mir unpassend, lockerer Austausch trifft es besser. Jeder scheint willkommen zu sein.

Trotzdem sind wir zu Anfang eingeschüchtert, denn die meisten Stammtisch-Gäste sind schon miteinander bekannt und viele untereinander befreundet. Mein Freund und ich sind zum ersten Mal hier, wir wissen nicht was uns erwartet. Glücklicherweise finden sich schnell Menschen wie Klara und Hannes, die uns als Unkundige erkennen und sich unserer annehmen. Schnell wird mir klar: Zwar birgt die Abkehr von der klassischen monogamen Beziehung immer die gleichen Hindernisse und Schwierigkeiten, trotzdem ist jede Geschichte einzigartig. Und jeder hier scheint seine gerne zu erzählen.

Polyamorie – was bedeutet das?

Polyamorie setzt sich aus dem griechischen Wort polýs („viel“) und dem lateinischen Wort amor, also Liebe, zusammen. Generell ist dies der Oberbegriff für die Lebensweise, mit vollem Einverständnis aller Beteiligten, Liebe zu mehreren Menschen praktizieren zu können. Dabei ist sekundär, ob es sich um sexuelle oder emotionale Verbindungen handelt. Der bekanntere Begriff der Freien Liebe, der durch die Hippie-Bewegung geläufig wurde, ist der Polyamorie im Kerngedanken sehr ähnlich, auch hier geht es um Selbstbestimmung und das Ablegen von Besitzdenken in menschlichen Beziehungen. Heutzutage werden die 68er Jahre und die Kommune 1 allerdings mehr mit sexueller Ausgelassenheit assoziiert. Der philosophische Ansatz, nämlich Liebe nicht ökonomisch zu begreifen, ist in Vergessenheit geraten. Dieser ist Anfang der Neunziger wieder aufgegriffen worden und zum tragenden Pfeiler des Polyamorie-Konzepts geworden.

Heutzutage leben schätzungsweise etwa 10.000 Menschen in Deutschland polyamor. Das bedeutet nicht unbedingt, dass alle tatsächlich in Beziehungen zu mehreren Menschen leben, poly wird von vielen mehr als eine Art Lebenseinstellung betrachtet. Es ist also durchaus möglich, nur einen festen Partner zu haben oder Single zu sein, und sich trotzdem als poly zu definieren.

Da es einiges an Mut und Durchhaltevermögen erfordert, sich dem Konzept der Vielliebe zu öffnen, entstehen mehr und mehr Netzwerke, die als Austausch-Plattformen für Interessierte und Erfahrene fungieren. So auch der Kölner Stammtisch, der sich das Motto „offen-ehrlich-viele lieben“ zu eigen gemacht hat. Hier kann zweimal im Monat über alles gesprochen und diskutiert werden, seien es Beziehungsprobleme, das aktuelle Zeitgeschehen, philosophische Fragen oder einfach das Wetter.

Freie Liebe in der Praxis

Einigen Menschen wird im Laufe ihres Lebens bewusst, dass Monogamie für sie nicht die optimale Beziehungsform darstellt. Das kann in jungen Jahren der Fall sein, oder erst nach zwanzig Jahren glücklicher Ehe. Wie damit umgegangen wird, ist sehr unterschiedlich.

Oft suchen sich Menschen heimlich weitere Partner oder Affären, was allgemein als Fremdgehen oder Cheating bezeichnet wird. Hierbei fühlt sich der andere Partner oft hintergangen und verletzt, da er kein Mitspracherecht hatte. Ein anderer Ansatz, den immer mehr Paare wählen, ist eine offene Beziehung. Hier können Dates und Sex mit anderen Menschen stattfinden, emotionale Verbindungen sind meistens unerwünscht. Diese Beziehungen funktionieren oft nach einem Don’t ask, Don’t tell – Prinzip, was bedeutet, dass dem Partner von Anderen nicht erzählt wird, aber trotzdem allgemeiner Konsens herrscht.

Von Polyamorie wird gesprochen, wenn es sich um Liebe zu mehreren Personen handelt. In diesem Konzept hat Kommunikation einen hohen Stellenwert. Alle Partner wissen Bescheid und sind einverstanden, außerdem wird versucht Rücksicht auf alle Gefühle und Bedürfnisse zu nehmen. Wie man eine Beziehung letztendlich führt ist eine individuelle Entscheidung, bei der es kein richtig oder falsch gibt. Trotzdem haftet nicht-monogamen Beziehungsformen das Stigma an, dass ein Partner dabei auf der Strecke bleibe und unglücklich sei.

Sich von der gesellschaftlichen Norm zu lösen stellt eine der zentralen Hürden für die Entwicklung eines individuell passenden Beziehungskonzepts dar, dies erfordert eine große Offenheit und viel Verständnis. Auch für uns stellte die Entscheidung nicht mehr monogam zu leben eine große Herausforderung dar. Das Bedürfnis sich mit anderen auszutauschen verschlug uns letztendlich zum Kölner Stammtisch.

Dort treffen wir Leute jeden Alters, die uns allesamt gerne an ihrer persönlichen Geschichte teilhaben lassen. Luisa und David sind seit vier Jahren ein Paar, während Luisa bis vor kurzem noch eine Beziehung zu einem anderen Mann hatte. Oder Klara und Hannes, die verheiratet sind, beide aber Beziehungen zu anderen Männern und Frauen pflegen. So können ganze Poly-Netzwerke entstehen, deren Zahl der Beteiligten sich im zweistelligen Bereich bewegen kann.

Außerdem lernen wir, dass es unterschiedliche Arten von Mehrfach-Beziehungen gibt. „Ich versuche alle meine Partner auf die gleiche Stufe zu stellen, andere differenzieren allerdings in Primär- und Sekundärpartner.“ erklärt uns Luisa. „Das größte Problem an mehreren Beziehungen ist nicht die Eifersucht, sondern einfach die mangelnde Zeit, deshalb auch die Differenzierung.“ Zeit und Organisation scheinen in der Tat Themen von erheblicher Relevanz zu sein. Da für niemanden der Tag mehr als 24 Stunden hat, stellt sich im alltäglichen Leben oft die Frage: Mit wem verbringe ich wieviel Zeit? Besonders in Familien mit Kindern erfordert dies vorausschauende Planung, sofern nicht alle Partner im gleichen Haus wohnen.

Haben oder Sein?

Die zweite große Problematik, welche weniger organisatorischer und mehr emotionaler Natur ist, ist Eifersucht. Ein großes Vorurteil gegenüber Polyamorie ist, dass Eifersucht nicht erwünscht sei, oder als Besitzdenken angesehen werde. Das stimme so direkt nicht, erklärt man uns. Eifersucht werde in gewisser Weise als etwas Positives betrachtet, an dem man wachsen und eventuelle Defizite der Beziehung erkennen könne. Eifersucht dürfe nicht verdrängt, sondern sollte angenommen werden. „Die Faustregel lautet immer: Reden, reden, reden. Wenn über Eifersucht, und die Verlustangst, die meistens dahintersteckt, richtig gesprochen wird, führt dies auf jeden Fall zu wachsender Intimität.“

Mit der Thematik Eifersucht habe ich mich auf der theoretischen Ebene schon vor Besuch des Stammtisches gründlich auseinandergesetzt. Der Schritt, die Exklusivrechte am Partner offiziell aufzugeben, ist zu Anfang bedrohlich. Man begibt sich auf unbekanntes Gebiet und fürchtet, die Beziehung könne die Konfrontation mit den eigenen Ängsten vielleicht nicht überstehen. Außerdem ist Eifersucht kein klar distinktes Gefühl, viel mehr ein Blumenstrauß an unangenehmen Gefühlen. Verlustängste, Neid, mangelndes Selbstwertgefühl und viele andere Emotionen können dabei eine Rolle spielen und in der Stärke der Ausprägung variieren.

Dass wir Eifersucht nicht einfach ausschalten können, nachdem wir in einer monogam-orientierten Welt aufgewachsen sind, ist nichts Verwunderliches. Hollywoodfilme sind geprägt vom monogamen Idealbild, Fremdgehen wird dort als unverzeihlich, Liebe oft als unteilbare, begrenzte Ressource dargestellt. In Beziehungen werden dort Terminologien wie „erlauben“ und „verbieten“ verwendet.

Viele dieser Aspekte thematisieren Dossie Easton und Janet W. Hardy in ihrem gemeinsamen Buch The ethical slut (1997), welches ich jedem Interessierten empfehlen kann. Eifersucht werde nur weniger werden, wenn wir aufhören unsere Liebe als begrenzt zu betrachten, denn begrenzt sei nur unsere Zeit, so die These der Autorinnen. In ihren Augen ist die romantische Liebe genauso unbegrenzt wie die mütterliche Liebe zu mehreren Kindern oder die freundschaftliche Liebe. Die an vielen Stellen vorherrschende ökonomische Betrachtungsweise von Liebe wurde auch schon vor einigen Jahrzehnten von Erich Fromm, einem Philosophen und Psychoanalytiker, in seinen Werken Die Kunst des Liebens (1956) und Haben oder Sein (1976) beschrieben. In seinen Augen haben die Entwicklung von gemeinschaftlichem Eigentum zu Privateigentum und das immer mehr an Bedeutung gewinnende wirtschaftliche System einen signifikanten Einfluss auf die Wahrnehmung und Ausübung von Liebe. Die Partnerwahl gleiche einem Personalmarkt, der nach marktwirtschaftlichen Prozessen ablaufe und dazu verleite, im Sinne der Nutzenmaximierung, nach dem optimalen, besten Partner zu suchen.

Fromm sieht den großen Fehler in der Beschränkung der Liebesfähigkeit auf nur eine Person, da damit oft einhergehe, die Person besitzen zu wollen. Dies beeinträchtigt in seinen Augen die Fähigkeit, die eigene Umwelt liebend und verständnisvoll zu betrachten und führe nicht zu Glück.

Polyamorie als Modell der Zukunft?

Obwohl die Polyamorie-Bewegung immer größeren Zulauf findet und immer mehr Literatur dazu verfasst wird, sind monogame Beziehungskonzepte in unserer Kultur nach wie vor das vorherrschende Modell.

Joachim, ein Besucher des Stammtisches, der zur älteren Generation gehört, sieht einen erneuten Trend zum Konservatismus: „ Nachdem die 68er-Zeit vorbei war, hat das alles wieder aufgehört. Gerade die jungen Leute legen doch wieder mehr Wert auf sexuelle Treue und Exklusivität.“

Wie es tatsächlich in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren aussieht, wird nur die Zeit zeigen können. Zu hoffen ist, dass zukünftig jeder Mensch seine Beziehung(en) führen kann, wie und mit wem er will. Ob hetero, homo, mono oder poly – niemand sollte sich rechtfertigen müssen.

Von Eva Haas

Beitrag erstellt am: 09.09.2017 um 22:50 Uhr
Letzte Änderung am: 11.11.2019 um 12:42 Uhr