In hohem Bogen aus der Komfortzone

Kämpfende Personen in Turnhalle
Beim Krav Maga geht es um mehr als das bloße Kämpfen. Foto: Eva Burghardt

Wie ich mich beim Krav Maga meinen Ängsten stellte.

An einem kalten Tag im März lief ich zur Bahnhaltestelle. In meinem Kopf eine Menge Fragen, in meinem Bauch Nervosität. Mein erstes Krav Maga-Probetraining stand bevor. In meinem Heimatdorf traf man nachts auf den Straßen höchstens mal ein verirrtes Kaninchen. In Köln dagegen waren mir einige meiner nächtlichen Begegnungen eher unangenehm gewesen. Deswegen folgte ich dem Rat einer Bekannten: „Lern doch Krav Maga. Das ist ein Selbstverteidigungssystem aus Israel. Wenn du das kannst, kannst du jedem in die Eier treten.”

Das klang doch ganz gut. Also, liebes Google-Orakel, was kannst du mir über Krav Maga erzählen? Als Erstes sprangen mir imposante Videos entgegen, wo ein muskelbepackter Sonnenbankproll mal eben erklärte, wie er einen Messerangriff abwehrt und dabei grazil mit einem Dreifach-Salto noch ein Katzenbaby rettet. Das Internet war voll mit Krav Maga und doch kam mir so vieles unseriös vor. Dann stieß ich auf die Internationale Krav Maga Federation (IKMF), die vom Erfinder des Krav Maga gegründet wurde: Imrich Lichtenfeld. Er hatte während des Zweiten Weltkriegs das Selbstverteidigungssystem entwickelt, um sich gegen antisemitische Übergriffe zu wehren.

Damit jeder es lernen konnte, wurde Krav Maga so konzipiert, dass es unabhängig von Größe und Geschlecht jeder lernen kann. Also auch eine kleine Frau wie ich. Die IKMF schien mir von allen Angeboten am seriösesten zu sein. Ich fand bald einen Standort namens Fight-or-Flight-Defence bei mir um die Ecke und meldete mich zum Probetraining an. Und dorthin war ich unterwegs, den Schal tief ins Gesicht gezogen und gespannt, was mich dort erwarten sollte.

Realistische Selbstverteidigung braucht Fitness

Am Trainingsort angekommen, unterschrieb ich als Erstes einen Zettel, dass ich auf eigene Verantwortung am Training teilnehme. „Damit erklärst du dich einverstanden, dass du dir alle blauen Flecke heute freiwillig holst”, grinste Christian Kutscher, der Trainer, an diesem Tag. Aus meiner leichten Nervosität wurde schnell ein Nervositätskoloss, doch ich hatte mich bewusst dazu entschieden das auszuprobieren, also rein ins kalte Wasser.

Schon beim Aufwärmen wurde mir klar, dass Krav Maga nicht nur Selbstverteidigung, sondern auch vor allem Fitness bedeutet. Wir machten Liegestützen, Sit-Ups und Kniebeugen – immer wieder. Ich fragte mich, ob ich den Gegner mit meinen kläglichen Liegestützen so zum Lachen bringen soll, sodass er vergisst, mich anzugreifen. Lachend erklärte mir Toni*, der schon länger dabei ist: „Das soll dich fit machen, damit du in einer gefährlichen Situation auch körperlich in Form bist.” Da hatte er Recht, fand ich und ignorierte den pulsierenden Protest in meinen Oberarmen.

Als Nächstes sollten wir auf engem Raum durcheinanderlaufen und uns leicht auf die Schulter schlagen. Das kleine Feld, indem wir umherliefen, war tatsächlich sehr klein und erinnerte mich an das abendliche Kuscheln in der Linie 4 während des Berufsverkehrs. Die Übung sollte also unsere Reflexe schulen, denn wir durften die Schläge auch abwehren und das eben unter „realen Bedingungen“. Das fand ich gut. In Menschenmengen fühle ich mich oft unwohl.

Doch wie „real“ diese Bedingungen sein konnten, wurde mir nach dem Aufwärmen klar. „Heute machen wir Chokes. Also jemand würgt mich von vorne, von der Seite oder von hinten“, erklärte Christian. „Wie jetzt, jemand würgt mich?“, dachte ich und sah mich ein wenig ungläubig um. Bevor ich mich versah, tippte mir schon jemand auf die Schulter. Alex*, mein Gegenüber, hob die Hände und führte sie an meinen Hals. Eine Nackenmassage war das nicht gerade. Etwas panisch riss ich seine Arme auseinander und rannte weg.

Alex erklärte mir freundlich, wie es richtig geht: Die Arme auseinanderreißen, leicht nach hinten lehnen, gezielt zwischen die Beine treten, ein paar Schläge hinterher und dann nichts wie weg. „Ich kann dir doch nicht zwischen die Beine treten!“, erwiderte ich. Doch Alex lachte nur: Natürlich trage er einen Tiefschutz. Na gut, neuer Versuch: Diesmal klappte es schon ganz gut, auch wenn mein Tritt zwischen die Beine eher ein leichtes Stupsen war.

Das richtige Mindset

Ich war überrascht, dass es funktionierte, denn Alex war gefühlt zwei Meter groß und sah aus, als hätte er die letzten Jahre in einem Fitnessstudio gewohnt. Christian, der Trainer, erklärte mir dann: „Krav Maga nutzt die natürlichen Reflexe, dadurch wird dir der erste Teil der Technik quasi geschenkt. So sind die Bewegungen leicht zu lernen. Der Rest ist vor allem körperliche Fitness und das richtige Mindset.“ Ich verstand nicht so ganz, was das bedeuten soll, als Julia*, eine andere Trainingsteilnehmerin, mir verdeutlichte: „Du wendest Krav Maga eigentlich immer an, indem du deine Umgebung genau wahrnimmst, die Fluchtwege kennst und dich entfernst, wenn dir eine Situation komisch vorkommt. Schau immer zuerst, ob du fliehen kannst. Wenn nicht, dann kämpfe und gib niemals auf.“ Ich begann zu verstehen. Obwohl mich der direkte körperliche Kampf in hohem Bogen aus meiner Wohlfühlzone katapultierte, war mir nach dem Training klar: Ich möchte Krav Maga lernen – mit allem, was dazugehört.

Der kalte Tag im März ist jetzt mehrere Jahre her und ich bin immer noch begeisterte „Kravistin“. Mehrmals in der Woche gehe ich zum Training und habe bei der Fight or Flight Defence neue Freunde gefunden. Mittlerweile habe ich Spaß am Nahkampf und lerne immer wieder Neues dazu. Meine anfänglichen Berührungsängste haben sich in Luft aufgelöst.

Ob ich jetzt jedem in die Eier trete, der mir bedrohlich vorkommt? Nein, denn darum geht es beim Krav Maga eben nicht. Es geht darum, Konflikte zu vermeiden und erst, wenn es nicht mehr anders geht, die Selbstverteidigung einzusetzen. Wenn ich jetzt nachts allein durch Köln laufe, sind meine Augen und Ohren offen. Ich registriere jeden meiner Mitmenschen und wenn mir etwas komisch vorkommt, gehe ich einen Umweg. Und sollte ich eine Auseinandersetzung nicht vermeiden können, weiß ich, was zu tun ist.

* Namen von der Redaktion geändert

Hier lerne ich Krav Maga. Du auch?
Fight-or-Flight-Defence Köln
Arnsberger Straße 9
51065 Köln
www.fight-or-flight-defence.de

Von Eva Burghardt

Beitrag erstellt am: 06.01.2020 um 09:29 Uhr
Letzte Änderung am: 06.01.2020 um 09:29 Uhr